„Der Tod, das muß ein Wiener sein“

In keiner Stadt der Welt ist die Sehnsucht nach dem Tod so groß wie in der österreichischen Hauptstadt  ■ Von Erwin Single

Nicht nur Georg Kreislers beißender Sarkasmus erinnert daran, daß man in Wien ständig mit dem Tod lebt. Über der ganzen Stadt liegt jener morbide Dunst, als fiele im nächsten Augenblick der Himmel herunter. Im Muff zwischen Donau und Wienerwald sitzen 1,6 Millionen Bewohner ihre Zukunft aus. In den melancholischen, teils griesgrämigen Gesichtern der grantelnden Wiener hockt der Schauder über eine neue Zeit — ohne Hofräte, alleinstehende Fräulein, Handkuß, Erbschaften und k.u.k.-Herrlichkeit. Kein Wunder, daß kaum ein Abend beim „Heurigen“ vergeht, ohne daß einer jener Gassenhauer angestimmt wird, in denen der Sensenmann dem lapidaren Leben ein Schnippchen schlägt.

Sterben muß jeder. In Wien aber wird das Ableben geradezu als Gesamtkunstwerk zelebriert. Als „schöne Leich“ einen geräuschvollen Abgang machen — das ist der Traum eines jeden Wieners. Wenn es schon nicht zu Pomp reicht, so muß die Bestattung doch angemessen sein. Die obligatorische Begräbniszeremonie ist nicht gerade billig. Würdevoll schleppen die „Pompfunebrer“, städtische Bestattungsbeamte in Edeltracht, die Särge über die Friedhöfe, gefolgt von Hinterbliebenen sowie nachtrauernden Freunden und Feinden, die genau wissen wollen, ob der Verblichene auch tatsächlich das Zeitliche gesegnet hat. Musik darf bei dem Schauspiel nicht fehlen. Gelegentlich — für die Begräbniszeremonie hoher Herren — rücken gar die Wiener Philharmoniker an. Lange Reden folgen. Der Rest ist schnell erledigt: An Gurten wird der Sarg in die Tiefe der letzten Ruhestätte gelassen, dann schaufelt die Trauergemeinde Erde auf die Toten, nicht ohne jedoch den trinkgeldberechtigten Friedhofswärtern ein paar Groschen zuzustecken. Zuletzt werden Berge von Kränzen, Sträußen und Gestecken auf die Gräber getürmt, bevor sich die Angehörigen zum Leichenschmauß davonmachen.

Rund 500 Beschäftigte, allesamt städtische Bedienstete, verwalten in Wien den Tod. Seit sich private Leichenbestatter schon in den 20er Jahren um das blühende Geschäft bis aufs Messer bekriegten, hat die Kommune das Gewerbe an sich gezogen. Etwa 25.000 Bestattungen werden jährlich abgewickelt, bis zu 50.000 Särge verlassen die Schreinereien. Wiener Friedhöfe, von denen es 52 gibt, haben ihre eigenen Gesetze. Zwar gibt es keine Unfallverhütungsvorschrift wie im ordnungsliebenden Deutschland, doch an Bestimmungen fehlt es nicht: „Die Friedhöfe sind öffentliche Sanitätsanstalten“, hält die Wiener Friedhofsordnung fest. „Sie dienen der Bestattung von Toten ohne Unterschied von Bekenntnis, Weltanschauung und Herkunft.“

Doch Begräbnisse in Wien spiegeln noch immer die Klassenzugehörigkeit wider. Hofzeremonien gibt es nur für die Reichen; wer arm ist, stirbt spurenlos. Und während auf den Ehrengräbern stets Kranzl oder frische Blumen liegen, wächst auf den Gräbern der Namenlosen Gras und Moos.

An der Simmeringer Hauptstraße liegt der Zentralfriedhof, 2.400.000 Quadratmeter groß und mit über 300.000 Grabstätten bestückt, davon 500 Ehrengräber. Er sei, sagt der Volksmund, zwar nur halb so groß wie Zürich, aber dafür doppelt so lustig. Mit der Linie 71 kann man bis zum friedhofseigenen Straßenbahndepot fahren. Innerhalb des riesigen Areals pendeln Busse. Die Toten können sogar mit dem Auto besucht werden.

Manche haben in Wien gleich mehrere Gräber: so wurden kaiserliche Leichen in Herz, Innereien und die leibliche Hülle zerteilt und in verschiedenen Grüften aufbewahrt. Einen makaberen Einblick gewähren auch die Katakomben unter dem Stephansfriedhof. Hier lagern die Knochen von 10.000 Toten, im 18. Jahrhundert aus Platzmangel von Strafgefangenen zusammengeräumt. Nicht weit davon entfernt liegt das einmalige Bestattungsmuseum, das neben allen möglichen Bestattungsutensilien aus dem Dies- und Jenseits 600 Sargausführungen beherbergt — darunter ein wiederverwendbarer Klappsarg, der Kaiser Josef II. zugeschrieben wird.

Warum tanzt der Tod in Wien permanent aus der Reihe? Der Abgang im Unterbewußtsein hat Tradition in Wien. Haß, Skepsis, Argwohn, Resignation und Fatalismus sind dort seit eh und je zu Hause. In Kakanien, schrieb schon Robert Musil, habe sich nicht nur die Abneigung gegen den Mitbürger bis zum Gemeinschaftsgefühl gesteigert, sondern auch das Mißtrauen gegen die eigene Person und deren Schicksal hat den Charakter tiefer Selbstgewißheit angenommen. Karl Kraus gar sah das Land als „Versuchsstation des Weltuntergangs“. Und Thomas Bernhard, der Wien als „den größten Friedhof der Phantasie und Ideen“ tituliert hat, rächte sich nach seinem Tod an der ungeliebten Heimat: Posthum belegte er das ganze Land mit einem Aufführungsverbot seiner Stücke — sie sollten nicht wie die Werke anderer genialer Selbstmörder nach deren Ableben ausgenutzt werden. „In Wien mußt' erst sterben, daß sie dich hochleben lassen“, hatte es der ebenso notorische wie geniale Querulant Helmut Qualtinger auf den Punkt gebracht.

„Wenn du das Leben aushalten willst, richte dich auf den Tod ein“, formulierte Siegmund Freud seine umstrittene Thorie vom „Todestrieb“. Doktor Freud hatte jahrelang die sich im Weltschmerz verzehrende Wiener Bourgeoisie auf die Couch gelegt. Im bürgerlichen Wien, wo Freud 78 Jahre lang lebte, kam er dem Zerstörungswillen auf die Spur: Das Leben suche weniger nach Lust als vielmehr nach Erlösung. Der stumme, aber mächtige Todestrieb, der sich gegen das eigene Leben oder Mitmenschen richte, wolle den Störenfried Eros zur Ruhe bringen. Der Kulturstaat, schrieb der Nervenarzt 1915, verlange von den Menschen Gehorsam und Anpassung, die im Widerspruch zu den Triebwünschen stünden. Und da keiner dem Tod davonlaufen kann, trage jeder unbewußt eine Todessehnsucht mit sich herum. Wird der kulturelle Kodex durchstoßen, handeln die Menschen wie Barbaren.

Skandale wie die Noricum-Affäre, der Fall Proksch und Lukona, dunkle Versicherungsmachenschaften, die unendliche Geschichte des Herrn Waldheim und die Begeisterung Jörg Haiders für die nationalsozialistische Arbeitsmarktpolitik haben aufgedeckt, woran die österreichische Seele krankt: Korruption, Lügengebäude, Rückgratlosigkeit, Schlamperei und Verdrängung. Es ist grad so, als würde die Essayistin Inge Merkel recht behalten: die „Insel der Seligen“ auf dem Weg eines unbewußten, lang hingezogenen Selbstmords ihrer Kultur. Die Wiener jedoch lächeln über ihre Bestatter: „Oh, du lieber Augustin, alles ist hin!“