Das Leben ist nur ein flüchtiges Geschenk

In der spanischen Provinz Galizien besteht noch heute ein enges Verhältnis zwischen Lebenden und Verstorbenen/ Die Toten machen angst, wollen aber umsorgt sein  ■ Aus Madrid Antje Bauer

Vor nicht allzu langer Zeit war es noch sehr gefährlich, nachts in Galizien, dem waldreichen Nordwesten Spaniens, vom Wege abzukommen. Zu leicht konnte man der Santa Compana begegnen, der „heiligen Gesellschaft“ wandernder Seelen. Am Kerzengeruch und einem leichten Wind merkte man, daß sie vorbeizogen. Wer dann nicht schnell genug einen Kreis am Boden um sich zeichnete, wurde gezwungen, sich der Santa Compana anzuschließen. Die Seelen trugen neben den Kerzen oft auch einen Sarg bei sich. Sie verließen ihre Gräber um Mitternacht und suchten diejenigen auf, die bald sterben sollten.

Angeführt wurden sie jedoch von einem Lebenden, der ein Kreuz sowie ein Becken voller Weihwasser trug. Er wurde erst abgelöst, wenn er einen anderen Lebenden antraf, dem er das Kreuz aufhalsen konnte. Am Tage führte er ein normales Leben und hütete sich, anderen zu erzählen, daß er „das Kreuz trug“. Da die Reise der Seelen in aller Eile und häufig im Flug gemacht wurde, fand sich der Anführer morgens häufig mit zerkratztem Gesicht im Graben oder in einer Hecke wieder. Mit der Zeit wurde er schwächlich und bekam eine gelbliche Gesichtsfarbe. Todbringend war der Anblick der Santa Compana jedoch nicht für die Kreuzträger, sondern nur für diejenigen, die nachts aufgesucht wurden.

Anthropologen vermuten, daß das Bild der Santa Compana in der Inquisition ihren Ursprung hat — auch die Schergen des Hohen Gerichts suchten nachts ihre Opfer auf. Im Zeitalter der Autobahnen und Eukalyptuswälder ist die Zahl derer, die an die Existenz der Santa Compana glauben, zwar immer kleiner geworden, doch die Schreckensvorstellung gehört nach wie vor zu den fest verwurzelten Legenden Galiziens.

Obwohl die Santa Compana in den letzten Jahren immer seltener gesichtet wurde, bedeutet das noch lange nicht, daß der Kontakt zwischen Toten und Lebenden abgebrochen ist. Die Verstorbenen sind die Botschafter ins Jenseits. Die Trauergäste beauftragen den Toten beim Begräbnis, den Ahnen Neuigkeiten aus dem Reich der Lebenden mitzuteilen. Es besteht ein zwiespältiges Verhältnis: Die Lebenden fürchten einerseits die Toten. Manchen Galiziern „erscheinen“ noch heute längst verstorbene Anverwandte, was als Ankündigung des eigenen baldigen Dahinscheidens gewertet wird. Doch trotz der Furcht wird die familiäre Fürsorge für die Seelen übers Grab hinweg fortgesetzt. Zwar darf ein Tisch über Nacht nicht gedeckt stehenbleiben, da sich sonst die Geister der Toten an den Essensresten gütlich täten, aber am Heiligabend werden Speisen für sie auf dem Tisch hinterlassen.

Zu Allerseelen stellt man Kerzen in die Fenster, damit die Toten sich auf ihrem Weg nicht verirren. Auch die zahlreichen Cruceiros — die grauen, steinernen Wegkreuze, die in Galizien und der südlicher gelegenen portugiesischen Provinz Tras- os-Montes an Weggabelungen und Ortseingängen stehen — sollen den Seelen den Weg weisen. Angeblich zeigen alle Kreuze in Richtung Santiago, dem Endpunkt des Jakobswegs. Um zu verhindern, daß die Seelen umherirren, werden dort, wo ein Mensch gestorben ist, Steine aufgehäuft. Dadurch wird die Seele an den Ort gebunden.

Der Totenkult der tief katholischen Galizier geht vermutlich auf ihre Vorfahren, die heidnischen Kelten, zurück. In der abgelegenen Region haben sich im Lauf der Jahrhunderte heidnische und christliche Bräuche innig vermischt. Die 80jährige Mercedes zum Beispiel betet jeden Abend mindestens ein Ave Maria und bekreuzigt sich nach jedem Schreck. Als sie jünger war, hatte sie „Gesichte“ und konnte den Tod von Bekannten voraussagen. Auch den tödlichen Unfall ihrer zweijährigen Tochter spürte sie im voraus. Heute ist die kleine Tochter auf einem Familienfoto verewigt, das im Wohnzimmer über der Vitrine hängt: Vater, Mutter, die Kleine und der auf dem Foto sechsjährige Sohn. Was macht es, daß der Sohn erst nach dem Tod der Tochter geboren wurde? Auch die Toten gehören zur Familie.

Zwar macht der Tod den Galiziern angst, doch geht man mit ihm eher unbefangen um. Das mag auch daran liegen, daß die jahrhundertelange bittere Armut viele vorzeitig ins Grab gebracht hat. Ein Ausdruck für das Bewußtsein, daß das Leben nur ein flüchtiges Geschenk ist, findet sich in dem Dorf Puebla de Caraminal. Einmal im Jahr findet dort eine einzigartige Prozession statt: Alle diejenigen, die knapp dem Tod entgangen sind und ein Gelübde für den Fall ihrer Genesung abgelegt haben, werden dann von ihren Verwandten in einem offenen Sarg getragen. Die Prozession ist gleichzeitig Volksfest— rittlings zwischen Leben und Tod.