: Avantgarde der Normalität
■ „True Stories“, 23.20 Uhr, Pro7
True Stories findet man in englischsprachigen Zeitungen unter der Rubrik „human interest“. Das sind einfach Klatschgeschichten. Also weniger diese abstrusen Meldungen über das Baby mit den zwei Köpfen oder die mysteriöse Ufo-Besatzung, die nach ein paar Drinks ihr geparktes Raumschiff nicht mehr fand. True Stories sind kleine, nette Geschichtchen, die man nebenbei entdeckt, Marginalien zum Schmunzeln. Absonderlichkeiten wie das glücklich verheiratete Ehepaar, das seit Jahren kein Wort miteinander gewechselt hat.
Multitalent David Byrne, Sänger der Talking Heads, hat solche Geschichten mit Vorliebe während der Stop Making Sense-Tour gesammelt. Die Idee, daraus einen Film zu machen, kam ihm durch Federico Fellinis Amarcord und Robert Altmans Nashville, beides Filme über eine Stadt. True Stories ist das Porträt des fiktiven Kaffs Virgil, Texas.
Als Cowboyhut tragender Conferencier führt uns Byrne durch die Stadt. Bei einer Computerfirma treffen wir einige Personen, die im Lauf des Films immer wieder auftauchen. Louis Fyne (John Goodman) ist ein einsamer, liebeshungriger Junggeselle. Vor seinem Haus flackert eine Neonschrift: Frau gesucht. Am Fließband arbeitet die „Lying Woman“ (Joe Harvey Allen), die stets „wahre“ Geschichten aus ihrem Leben erzählt. Sie schwört einen Eid darauf, daß sie Billie Jean von Michael Jackson sowie die meisten Elvis-Songs komponiert hat. Neben ihr ist Ramon (Tito Lariva) beschäftigt, der in seiner Freizeit in einem Gospelchor singt und Orgel in einer Tex- Mex-Gruppe spielt.
Nach einem Abend in der örtlichen Disco bringt uns der Erzähler am nächsten Morgen zur „Lazy Woman“ (Swoozie Kurz), die sich den ganzen Tag über in ihrem Bett vollautomatisiert Speisen reichen läßt. Im „Home Front“-Einkaufscenter, einem Ort, der den Marktplatz als Kommunikationszentrum abgelöst hat, werden wir Zeuge einer skurrilen Modenschau. Menschen in Anzügen ganz aus Gras, Stoffe in Backsteinmuster, Mäntel aus Laubwerk und Kleider in Form griechischer Säulen werden präsentiert. „Urban Camouflage“ nennt man das.
Die Idee zur Struktur des Films enwickelte Byrne während der Zusammenarbeit mit dem Theaterguru Robert Wilson, für den er die Musik zu den Knee Plays schrieb. Byrne präsentiert die absonderlichen Normalitäten der Einwohner von Virgil in einer locker verbundenen Szenenfolge. True Stories ist der Versuch, die Atmosphäre eines gut gemachten Videoclips auf Spielfilmlänge zu dehnen. Weniger eine konventionelle Handlung als das, was die Menschen den Tag über tatsächlich treiben, interessiert. Um Nichtigkeiten geht es, die ansonsten kein Kameraauge interessiert: „Ich befasse mich halt mit Geschichten, die einfach so beknackt sind, daß sich die Leute bisher noch nicht mit ihnen abgegeben haben.“
„Sollten die Zuschauer diese Leute auslachen, hat mein Film seine Absicht verfehlt“, sagt Byrne. Seine Protagonisten sind schon wieder so gewöhnlich, daß sie eine „Avantgarde der Normalität“ darstellen. Es ist der Ex-Kunststudent David Byrne, der hier spricht. Ästhetische Phänomene will er außerhalb der von Kunst vorgegebenen Rahmen aufspüren. Man muß zugeben, es ist ihm irgendwie geglückt. True Stories ist eine angenehm unspektakuläre Mischung aus Dokumentar- und Spielfilm, aus Videoclip und Obskuritäten-Revue. Manfred Riepe
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