Der Countdown läuft

■ Der Meistertrainer der sowjetischen Turnschule, Leonid Arkaew (51), sieht trotz vieler Olympia- und WM-Medaillen nach dem Zerfall des UdSSR-Imperiums einer ungewissen Zukunft entgegen

Moskau (taz) — Die Fahrt dauert vom Moskauer Zentrum aus fast vierzig Minuten. Zuerst auf der Leningrader Hauptstraße Richtung Norden, dann weiter auf einer kleinen Straße über unzählige Schlaglöcher bis zu einem Zaun mit einem elektrischen Tor, das auf ein Hupzeichen hin geöffnet wird. Zum Leistungszentrum „Ozero Kruglaya“ gehören eine große Schwimmhalle und drei große Turnsäle sowie einige Gymnastik-, Gewichts- und Massageräume. Am Eingang zur Mensa ist die olympische Losung „Schneller, höher, weiter“ zu lesen. Die Großbuchstaben „Dobro Poschalowatsch“ — „Herzlich willkommen“ zieren das Wohnheim, in dem die Sportlerinnen und Sportler untergebracht sind.

Hier also wohnen sie — die „Unbesiegbaren“, die „Immer-Ersten“, hier werden die Meisterinnen und Meister „gemacht“. Erstaunlich spartanisch sind die Einrichtungen gehalten. In den Turnhallen bröckelt der Putz von den Wänden — der optische Vorbote des beginnenden Zerfalls? Nein, im Augenblick können die Turnerinnen und Turner noch auf eine fast heile Welt blicken. Aber der Schein trügt nicht. Bei allem Optimismus — die Tage sind gezählt. „Wir spüren jetzt schon Einbußen“, stöhnt Leonid Arkajew, Cheftrainer der Turner. „Aber ich kann versichern“, fährt der 51jährige fort, „bis zu den Olympischen Spielen 1992 ist alles gesichert.“

Erst im November hatten die Nationalen Olympischen Komitees der Sowjetrepubliken dem IOC offiziell mitgeteilt, in einem vereinten Team in Barcelona starten zu wollen. Ob Natalja Lashchenowa, die in Stuttgart 1989 noch Weltmeisterin mit der Sowjetunion wurde und zur Zeit wieder in ihrer Heimat Riga trainiert, für Lettland reaktiviert wird, ist aber noch offen. Die sowjetischen Turnteams der Männer und Frauen, wie sie bisher aufgetreten sind, wird es voraussichtlich nicht mehr geben.

„Es ist schwer zu sagen, wie das alles nach dem August 1992 aussehen wird“, fragt sich Arkaew, „es wird wohl starke Teams aus Rußland, Weißrußland und der Ukraine geben.“ Der ukrainische Weltmeister Misiutin wird dann kaum mehr in Rußland trainieren wollen, wenn er gleiche Trainingsmöglichkeiten in seiner eigenen Republik vorfindet. Svetlana Boginskaja könnte wohl, sollte sie nach Barcelona noch aktiv sein, ins weißrussische Minsk zurückkehren.

Ein nicht mehr existierendes „Imperium“ kann freilich nicht repräsentiert werden. Es hat den Anschein, daß die Trainer einen „Restbestand“ in Moskau nicht mehr weitertrainieren wollen. Frauen-Coach Alexandrow weist alle Vermutungen zurück, für die Zeit nach Barcelona eine Anstellung im Ausland gefunden zu haben: „Daß ich nach Frankreich gehe, ist ein Gerücht.“ Männer-Boß Arkaew findet ebenso klare Worte. Der ehemalige Mannschaftsweltmeister von 1966 in Dortmund blieb dem Turnen immer aufs engste verbunden: „Ich wurde gleich nach meiner Aktivenzeit Trainer.“

Dann hat er das Männerturnen in der ehemaligen Sowjetunion entscheidend geprägt, nun will er Moskau verlassen. Weil ihm als Schüler Klimmzüge und „das Kräftemessen überhaupt“ gefallen haben, sei er zum Turnen gelangt. Klimmzüge wird Arkaew in Moskau jedoch nicht mehr viele machen. „Ich habe noch nichts Konkretes in Aussicht“, bekennt der Meistercoach, „ich bin mir nur sicher, daß ich mich nach Barcelona im Ausland engagieren möchte.“

In seinem kleinen Arbeits- und Wohnzimmer des Moskauer Turninternats liegt ein kleines gelbes Büchlein auf dem Schreibtisch: ein Sprachführer Russisch-Deutsch. Thomas Schreyer