Nur ein unangenehmes Kribbeln

Drei Frauenmorde und einen Mordversuch hat Martin G. gestanden. In seinem Prozeß vor dem Frankfurter Landgericht soll trotzdem die Genomanalyse durchgeführt werden. Das Gericht tut sich mit dem Angeklagten schwer, seltsam dürr und distanziert sind seine Ausführungen zum Tatgeschehen  ■ VON HEIDE PLATEN

Fremd ist er, so fremd: Martin G., 23 Jahre alt, blond, mit schon beginnender Glatze, sitzt seit Anfang November im Saal 10E des Frankfurter Landgerichtes auf der Anklagebank. Er hat drei Morde und einen Mordversuch gestanden. Immer wieder gestanden, erst den Polizeibeamten, die ihn am 21. März 1990 an seiner Arbeitsstelle in der Wertstelle der Post unter dem Frankfurter Hauptbahnhof festnahmen, dann dem Untersuchungsrichter, den Vernehmungsbeamten in Marburg. Er gesteht Ende November im Gerichtssaal noch einmal, die Auszubildende Manuela M. erwürgt zu haben. Er gesteht auch die Morde an den beiden Prostituierten Barbara D. und Sonja Schmid und den Versuch, deren Kollegin Tina S. umzubringen.

Die Worte, in denen er das tut, sind so dürr, daß eine Verbindung zwischen ihm und den Taten nicht nachvollziehbar wird. Polizisten und Untersuchungsrichter haben von diesem Phänomen berichtet. Sie mußten sich immer wieder vergewissern. Martin G. habe, sagt der inzwischen pensionierte, hoch angesehene Untersuchungsrichter Geppert im Zeugenstand, „aus einem inneren Drang heraus“ gestanden, „eine Art Selbstreinigung“ vollziehen wollen. Ihn habe die „außerordentliche Ruhe“ des Beschuldigten, der auch keinen Rechtsanwalt wollte, „eigentlich erstaunt“. Auch die Polizeibeamten in Marburg, die sich von ihm zu dem Ort des Mordes an Manuela M., zu der Stelle im Wald nahe seines Heimatortes Roßdorf, an der sie die Leiche gefunden hatten, und zu den Plätzen, an denen die Kleidung des Mädchens versteckt war, führen ließen, machten es sich nicht einfach. Gebert mußte sie durch „seine Detailkenntnis“ regelrecht überzeugen. Dennoch, seine vielen Geständnisse bleiben merkwürdig flach und mechanistisch.

Das Gericht müht sich. Es findet vorerst keinen Zugang zu dem Angeklagten und seinen Taten. Heiner Mückenberger, Vorsitzender Richter der 3. Strafkammer, tastet sich vorsichtig durch das Geständnis, klopft dessen Kargheit nach menschlich Nachvollziehbarem ab. Dann fragt er G. geradeheraus: „Berühren Sie diese Dinge?“ G. gibt kühl Bescheid: „Es tut mir leid.“ Hinzuzufügen habe er nichts: „Die Anklage ist in dieser Beziehung vollständig.“ Er habe die 17jährige Manuela M. in der Mittagspause als Anhalterin in seinem Auto mitgenommen, sich auch ein wenig mit ihr unterhalten. Als Frau habe sie ihn nicht interessiert. Ganz plötzlich sei er dann in einen Feldweg abgebogen, habe angehalten, „sich zu ihr herübergebeugt und sie gewürgt“. Den Todeskampf des Mädchens hat er als wesentlich länger in Erinnerung, als jeder Gutachter sich das vorstellen kann. Es sei ganz einfach so über ihn gekommen, „ein Drang zum Würgen“, den er als „unangenehmes Kribbeln“ erinnert. Anschließend verscharrte er die Leiche flüchtig, fuhr nach Hause zu seinen Eltern und aß zu Mittag. Die Kratzer in seinem Gesicht erklärte er mit einem Ausflug auf einen Pflaumenbaum. Wer das Mädchen war, habe er erst später durch Fahndungsplakate erfahren.

An die anderen beiden Morde hat er kaum eine Erinnerung, „fast nicht“, nur „düster“. Wer die Frauen waren, in welcher Reihenfolge er sie umbrachte, weiß er nicht. Eine der beiden Taten hatte allerdings in der Öffentlichkeit für Aufsehen gesorgt. Opfer war die 25jährige Prostituierte Sonja Schmid, die am 3.Oktober 1989, gefesselt und stranguliert mit Damenstrümpfen, tot im Wald bei Langen gefunden worden war. Journalisten und Fernsehautoren befaßten sich vor und nach ihrem Tod mit ihrem kurzen Leben. Sonja Schmid war nach einer Kindheit voller Schläge und Brutalität aus Augsburg nach München geflüchtet. Sie suchte, sagen Bekannte und Kolleginnen, immer wieder die Nähe von Männern, weil sie sich nach Geborgenheit sehnte. Deshalb war sie, erinnert sich ein Bordellbetreiber, „eigentlich keine richtige Nutte“. Ihr habe die Arbeitsauffassung dazu gefehlt. 1985, nach einer gescheiterten Ehe, strandet sie im Gefängnis. Ärzte stellen fest, daß sie HIV-infiziert ist. Die Aids-Hysterie hat zu dieser Zeit einen ihrer Höhepunkte erreicht. Die bayerische Polizei macht nach ihrer Haftentlassung Jagd auf Sonja Schmid wie auf eine Schwerverbrecherin, bringt sie schließlich erneut ins Gefängnis. Vom Tag ihrer Entlassung im Sommer 1988 an steht sie als „Aids- Dirne“ schon wieder unter Beobachtung. Ihr wird zum Verhängnis, daß sie sich aus dem Drogen- und Prostituiertenmilieu, das ihre zweite Heimat ist, nicht lösen kann. Polizeibeamte machen sie betrunken und verhaften sie dann. Einer Therapie entzieht sie sich, siedelt nach Frankfurt über und verschwindet im Bahnhofsviertel — bis sie auf ihren Mörder trifft. Auch das weitere Geschehen ist von öffentlichem Interesse. Neben der Leiche der Sonja Schmid war ein mit Sperma gefülltes Kondom gesichert worden. Beamten war die Parallelität zu einem anderen Prostituiertenmord, vier Wochen zuvor, aufgefallen.

Der Einsatzleiter, der im September 1989 in das Waldstück bei Seligenstadt zum Fundort der Leiche der 22jährigen Barbara D. gerufen worden war, wundert sich noch heute über seine eigene Gründlichkeit. Alles habe für ihn zuerst so ausgesehen wie bei einem ganz gewöhnlichen Todesfall im Drogenmilieu, zumal ein Spritzbesteck gefunden worden war. Die Würgemale seien nicht zu sehen gewesen und erst bei der Obduktion entdeckt worden, zusammen mit den Spuren von dumpfen Schlägen auf den Kopf der Frau. Bei Drogentoten macht man sich sonst, ist seiner Aussage zu entnehmen, eigentlich keine besonderen Gedanken über die Todesursache. Aber irgendwie, sagt er, sei ihm der Fall „etwas komisch vorgekommen“.

Das Sperma in den Kondomen, im Eisschrank gesichert, findet in beiden Fällen seinen Weg zum Bundeskriminalamt und wirdeiner Genomanalyse unterzogen. Der untersuchende Beamte, der Biologe Schmitter, erklärt vor Gericht ausführlich, wie der „genetische Fingerabdruck“ sowohl zur Überführung als auch zur Ausschließung von Tätern genutzt werden kann. Der Täter habe zum einen die seltene Blutgruppe 0 gehabt, zum anderen seien die DNS-Reihen der Menschen noch unverwechselbarer einmalig als Fingerabdrücke und höchstens bei „eineiigen Zwillingen gleich“. Nur G. könne der Täter gewesen sein. Verteidiger Emmerich ist unzufrieden. Er zweifelt die Methode an, verweist auf deren Unerprobtheit. Er verlangt ein weiteres Gutachten. Sein Mandant, der eigentlich lieber Lebensmittelchemiker als Postbeamter geworden wäre, stellt, an den Gutachter, zum ersten Mal im Prozeß Fragen. Sie sind gespenstisch sachlich und verworren zugleich.

Der Person des Angeklagten wird die Verteidigung bisher nicht einmal im Ansatz gerecht. Die Eltern und der Bruder weigern sich, vor Gericht zu erscheinen. Kindheit und Jugend, Lebensgeschichte und mögliche Motive bleiben im dunkeln. Die ehemalige Verlobte sagt unter Ausschluß der Öffentlichkeit aus. Sie erinnert sich immerhin daran, daß er ihr — möglicherweise ein Signal — den Mord an Manuela M. einmal gestanden hat. Gleich hinterher habe er aber alles wieder bestritten. Sie habe ihm ohnehin nicht geglaubt. Manchmal, so habe sie vermutet, sei er zu Prostituierten gegangen. Daß sie sich einmal getrennt hätten, habe an der Mutter von Martin G. gelegen, die gegen die Beziehung gewesen sei. Der Vertreter der Jugendgerichtshilfe weiß von der Hilflosigkeit der Eltern nach der Tat zu berichten. Sorgen wegen der Nachbarn und der Kosten, die auf sie zukommen könnten, hätten sie sich gemacht. Er beschreibt eine kühle, nach dem äußeren Eindruck orientierte Familie, die es nicht gelernt hat, Gefühle auszudrücken, wohl aber den Schein zu wahren: „Die wußten sich nicht zu helfen.“ Ein Kriminalbeamter berichtet, es sei den Eltern mehr „um die Schande“ als um die Sorge um ihren Sohn oder um einen Gedanken an die Opfer gegangen.

Rechtsanwalt Emmerich hat seinem Mandanten nicht nachdrücklich nahegelegt, sich einer psychologischen Begutachtung zu unterziehen. Die beiden Gutachter, Prof. Schumacher und Prof. Sachs, die G.s Schuldfähigkeit beurteilen sollen, sind nicht von ihm bestellt. So müht sich Vorsitzender Mückenberger weiter mit der Unzugänglichkeit des Martin G. ab und stellt fest, dies alles sei ihm „rätselhaft“: „Es ist so schwer, sich in eine so ungewöhnliche Gedankenwelt zu versetzen.“

Sexuelle oder Gewaltphantasien habe er bei den Morden nicht gehabt, gab G. zu Protokoll, auch keinen Haß gegen Prostituierte, die er im Frankfurter Westend entdeckt und des öfteren, das betont er, auch aufgesucht habe, ohne sie zu ermorden. Ein Kollege aus dem Postheim, der mit ihm einige Monate das Zimmer teilte, beschreibt ihn — wie alle anderen Zeugen — als „absolut unauffällig“ und still. So sitzt er auch im Gerichtssaal, verstaut seine fast zwei Meter Körpergröße ungeschickt, die Füße zueinandergedreht. Sein Gesicht wirkt unbewegt, nur manchmal färben sich die angespannten Wangenmuskeln unterhalb der Goldrandbrille fleckig rot. G. leidet an einem Augenfehler, er schielt nach außen. Dieser Blick scheint nichts und niemanden festhalten zu können.

Das Gericht wird sich unter anderem fragen müssen, warum G. seine Opfer nur dürftig verborgen hat, unter Laub verscharrt oder nur im Wald abgelegt, warum er deren Kleider so merkwürdig verstreute und doch zu Häufchen ordnete; auch, warum Sonja Schmid gefesselt worden war. Gutachter Schumacher versucht, diese Spur aufzunehmen. Ob die Gegenstände vielleicht „rituell“ plaziert worden seien, fragt er einen der Polizeibeamten. Der verneint. Er jedenfalls habe kein „System“ erkennen können.

Die bisher einzige Zeugin der Anklage ist eine resolute Prostituierte aus dem Bahnhofsviertel. Sie rettete ihrer Kollegin Tina M. am 21. März 1990 möglicherweise das Leben. Morgens gegen 4.30 Uhr sei sie an einem einschlägigen Hotelparkplatz vorbeigekommen, habe Geräusche „wie von stampfenden Füßen“ gehört und sich gedacht: „Da geh' ich mal nachsehen.“ Sie habe ein Auto gesehen und innen drin, mit aufgerissenem Mund im Würgegriff des Täters, in Todesangst, „die Tina“: „Es war ganz klar. Der will die umbringen!“ Das Auto sei verschlossen gewesen. Sie habe erst nach einem Stein gesucht, um die Scheibe einzuschlagen, aber keinen gefunden. In ihrer Panik habe sie dann wie wild mit den Fäusten auf den Wagen eingetrommelt und geschrien. Irgendwann habe der nackte Mann sie bemerkt, sei auf den Fahrersitz gesprungen und habe Gas gegeben. Sie habe weiter geschrien, daß sie die Polizei hole und die Autonummer habe. Erst da habe er kurz angehalten und Tina M. aus dem Wagen geworfen. Die Autonummer weiß sie bis heute auswendig. Nach ihren Angaben wird G. ausfindig gemacht und verhaftet. Den Wagen hat er in der Nähe seiner Arbeitsstelle abgestellt. Im Innenraum liegen unter anderem noch ein Stiefel und ein Plüschtier der Tina M.

Das Opfer, die Hauptbelastungszeugin Tina M., war lange Zeit zur Verhandlung nicht aufzutreiben. Die drogensüchtige Frau war nach ihrer Aussage auf dem Polizeipräsidium wegen eines offenen Haftbefehls gleich ins Gefängnis gebracht worden. Der Polizeiarzt, der sie damals „als Beschuldigte“ untersuchte, war nicht darüber informiert, daß sie gerade einem Mordanschlag entgangen war. Entsprechend dürftig ist sein Befund. Er erinnert sich im Zeugenstand auch nicht, daß die Frau überhaupt über ihr Erlebnis gesprochen habe. Richter Mückenberger findet das, gelinde gesagt, „merkwürdig“. Tina M. ließ ihre Lebensretterin kurz vor dem Prozeß wissen, daß sie aus Angst vor einer neuen Inhaftierung nicht im Gerichtssaal erscheinen wolle, überraschend sagte sie jetzt doch im Prozeß aus. Die Verhandlung wird Ende Januar mit dem Bericht der Gutachter fortgesetzt.