Gipfel-Blockade bei der Sozialpolitik

Großbritannien will Sozialstandards nicht per Mehrheitsentscheid einführen/ Ostdeutsche Abgeordnete müssen einstweilen draußen bleiben/ Von fünffach abgesicherter Informationspolitik  ■ Aus Maastricht Michael Bullard

„Einstimmig, mehrstimmig — unstimmig“, kommentierte ein Korrespondent aufgebracht die Desinformationskampagne beim Treffen der EG-Lenker in Maastricht. Zwar wurde die versammelte Journalistenmeute auch am Dienstag, dem zweiten Gipfel-Tag, ständig mit Informationshäppchen aus dem Allerheiligsten gefüttert. Daß dabei jedoch keine unautorisierten Neuigkeiten an die Öffentlichkeit drangen, dafür sorgte eine fünffache Kontrolle mit entsprechend vielen Möglichkeiten zur Mißinterpretation.

Was unter den 24 Chefaugen und den beiden der Kommission gesprochen wurde, ging über die Dolmetscher erst einmal an die Stenographen, die dann zwölf Vertretern der Mitgliedsregierungen und der EG- Kommission mündlich Bericht erstatteten. Diese sogenannten „Anticis“ machten sich davon Notizen, die sie an die Regierungssprecher weitergaben. Letztere lasen dann die Neuigkeiten bei verschiedenen, nach Nationalitäten getrennten „briefings“ den etwa 2.000 angereisten Journalisten vor.

Konsequenz des heiteren Ratespiels: In den Pressehallen dominierte der Geist der freien Interpretation, während sich im Minutentakt die Parameter der Berichterstattung änderten. War gerade noch von einem baldigen, von Erfolg gekröntem Ende die Rede, verbreitete sich wenig später das Gerücht, der Gipfel stehe kurz vor dem Scheitern. Als Zauberworte erlebten in dem Durcheinander die Begriffe „Evolutionsklausel“ und „opting out“ neue Höhenflüge. Letzterer ist auf die Briten zugeschnitten, er soll ihnen erlauben, draußen zu bleiben und trotzdem mitzumachen. Die Klausel komme überall dort zur Anwendung, wo eine Einigung zur Zeit nicht möglich ist. Mit ihr soll verhindert werden, daß jeweils, wenn in den nächsten Jahren eine Einigung möglich wird, die gesamten Verträge erneut verändert werden müssen.

Bevor sich die Politiker in die Nachtsitzungen verabschiedeten, ließen sich aus dem Puzzle einige Tendenzen zusammensetzen.

Offene, gelöste oder vertagte Probleme

Stillstand gab es bei der sozialen Frage. Eine Kompetenzausweitung der EG und parallel dazu Mehrheitsabstimmungen im Ministerrat im Bereich der Sozialpolitik waren zwar schon vor dem Gipfel von elf Mitgliedsregierungen akzeptiert worden. Der britische Premierminister blieb jedoch rigide bei seiner ablehnenden Haltung. Mit einer Kompromißformulierung — einer „opting out“-Möglichkeit für Großbritannien — sollte er in letzter Minute doch noch zum Einlenken gebracht werden — ob mit Erfolg, blieb bis zum frühen Abend offen.

Eine Niete zogen offensichtlich die 18 deutschen „Beobachter“ der fünf neuen Bundesländer beim Europaparlament. Sie sollten nach den nächsten Wahlen 1994 zu vollwertigen Abgeordneten werden; dann hätten 99 Deutsche im Parlament gesessen. Aber auch Frankreich will mehr Sitze. Bis Ende 1992 sollen sich nun Parlament und Kommission auf eine neue Gesamtzahl der Mandate einigen; zugunsten von Neuankömmlingen aus Österreich und Schweden sollen dann die Altländer Sitze abgeben. Bis dahin soll auch der Streit zwischen Brüssel und Straßburg über den endgültigen Standort des Parlaments und die Verringerung der Zahl der EG-Kommissare (von jetzt 17 auf eventuell 12) ausgestanden sein.

Erfolgreicher waren die europäischen Regionen. Vor allem die deutschen Bundesländer hatten die Einrichtung eines beratenden Regionalausschusses auf EG-Ebene gefordert. Auf britischen Druck gestrichen wurde das Wort „föderal“, für das nun die Formulierung „eine neue Stufe auf dem Weg einer immer enger werdenden Union zwischen den Völkern“ ersetzt wurde.

Erfolgreich waren auch die beitrittswilligen Staaten Österreich und Schweden. Ihnen wurde versprochen, daß nach der Neuordnung der EG-Finanzen im nächsten Jahr der Aufnahmeprozeß beginnt.

Der Forderung Spaniens nach größerer finanzieller Unterstützung durch die reicheren EG-Länder wurde nachgegeben. Ein „Kohäsionsfonds“ für Umweltschutz- und Infrastrukturmaßnahmen, mit dem auf deutschen Druck aber keine Telekommunikations- und Stromversorgungsprojekte finanziert werden dürfen, erhielt gegen britisches Sträuben grünes Licht.

Selbst in den Fragen einer gemeinsamen Außenpolitik und der Rolle der Westeuropäischen Union (WEU) als „sicherheitspolitischer Arm“ der EG deuteten sich Kompromisse an. Bei neu auftauchenden Problemen solle die Außen- und Verteidigungspolitik per Mehrheitsentscheid koordiniert werden, hieß es. Heftiger Widerstände gegen eine Herabminderung der Nato gab es aber weiter aus Großbritannien, den Niederlanden und Portugal. Griechenland kündigte sein Veto an, wenn es nicht in die WEU aufgenommen werde.

Unbeantwortet blieben bis Redaktionsschluß die deutschen Forderungen nach einer Stärkung des Europäischen Parlaments. Bevor nicht klar sei, in welchen Bereichen das Parlament mitbestimmen dürfe, so drohte Bundeskanzler Kohl erneut, sei auch die bereits am ersten Gipfeltag erzielte Einigung zur Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) nicht endgültig.

Die Finanzminister hatten sich bereits am Montag auf die Einführung einer Europa-Währung frühestens Ende 1996, spätestens aber ab 1999 geeinigt. Dem stimmten gestern die Staats- und Regierungschefs im Prinzip zu. Großbritannien will weiterhin seinem Pfund Sterling nicht bye-bye sagen und bekommt seine „Opting out“-Ausstiegsklausel in einem angehängten Protokoll.

Bei der für Ende 1996 ersten Stunde Null der Euro-Währung müßten mindestens sieben Länder gute wirtschaftspolitische Noten aufweisen. Ihre Neuverschuldung darf drei und die Gesamtverschuldung 60 Prozent des Brutto-Inlandsproduktes nicht überschreiten, die Inflationsrate darf nicht mehr als 1,5 Prozent und der Leitzins nicht mehr als 3 Prozent über dem Niveau der drei stabilsten Länder liegen. Kommt die dazu benötigte qualifizierte Mehrheit der Staats- und Regierungschefs nicht zustande, soll die Prozedur zwei Jahre später quasi automatisch ablaufen. Dann soll für eine Mitgliedschaft im ECU-Club nur noch ausschlagegebend sein, ob die Antragssteller die von den Finanzministern festgelegten Konvergenzhürden meistern. „Es müßte schon mit dem Teufel zugehen“, so der niederländische Finanzminister Wim Kok, „wenn 1999 nicht wenigstens drei oder vier EG-Länder die Qualifikation für die Endrunde schaffen“.