Unklarheiten bei atomarer Kontrolle

■ Die Kontrolle der Atomwaffen ist als letztes Refugium Gorbatschows strittig

Während und nach dem fehlgeschlagenen August-Coup gegen Präsident Gorbatschow stießen besorgte Fragen westlicher Politiker über ein möglicherweise außer Kontrolle geratenes sowjetisches Atomwaffenarsenal auf einhellige Beschwichtigungen und Absichtserklärungen aus der UdSSR: Gorbatschow habe die Kontrolle die ganze Zeit über besessen, und bei einer zentralen Kontrolle solle es auch weiterhin so bleiben. Spätestens seit der Ankündigung einer „Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ durch die Präsidenten der drei slawischen Republiken Rußland, Belorußland und Ukraine existiert diese Einhelligkeit nicht mehr. Die Hauptakteure in der Sowjetunion widersprechen sich munter.

Bereits nach der Ankündigung der slawischen Staatengemeinschaft hatte Rußlands Präsident Boris Jelzin Sonntag nacht US-Präsident Bush telefonisch versichert, die Atomwaffen seien „unter Kontrolle“. Nachdem US-Außenminister Baker jedoch die Sorge äußerte, in der Sowjetunion könne es „ähnlich wie in Jugoslawien“ zu einem Bürgerkrieg kommen, nur diesmal „mit dem Einsatz von Atomwaffen“, beteuerte Rußlands Außenminister Andrej Kozyrew am Montag noch einmal: „Es gibt keine Gefahr der Verbreitung atomarer Waffen.“

Der ukrainische Präsident Leonid Krawtschuk teilte mit, er habe sich mit Jelzin und seinem belorussischen Amtskollegen Stanislaw Schuschkewitsch auf ein System der „drei schwarzen Koffer“ geeinigt. Jeder dieser Koffer enthalte einen Roten Knopf. Doch seien diese drei Knöpfe „miteinander verbunden“, ein Einsatz von Atomwaffen nur möglich, wenn alle drei Präsidenten ihren Knopf drückten. Dieses System biete „sehr viel mehr Sicherheit“ als das bisherige, bei dem der sowjetische Präsident allein auf den Knopf drücken konnte.

Nach Angaben von Gorbatschows Berater Schachnasarow vom Dienstag hat jedoch der sowjetische Präsident weiterhin die alleinige Kontrolle über den „atomaren Knopf“. Dieses Recht könne ihm nach der Verfassung „nur der Kongreß der Volksdeputierten abnehmen“, dessen Einberufung Gorbatschow am Montag abend in Reaktion auf die Gründung der slawischen Staatengemeinschaft verlangt hatte.

Nach einer Entmachtung oder einem Rücktritt Gorbatschows hätten die drei Präsidenten der neuen Union zumindest die Kontrolle über fast sämtliche strategischen Atomwaffen der UdSSR: In Rußland befinden sich zwölf Raketenfelder mit festen Silos, zehn für mobile SS-24-Raketen auf Eisenbahnen und mobile SS-25 auf Lastwagen, elf Luftwaffenstützpunkte für strategische Bomber sowie die Heimathäfen für alle strategischen U-Boote. In der Ukraine befinden sich die Silos für 120 SS-19-Raketen mit jeweil sechs Sprengköpfen, für 56 SS-24-Raketen sowie acht strategische Luftwaffenbasen. Fünf Luftwaffenstützpunkte befinden sich in Belorußland ebenso wie Silos für SS-25-Raketen.

Der Rest des strategischen Arsenals (104 landgestützte SS-18-Raketen) befindet sich jedoch in Kasachstan. Sie werden hier jedoch ausschließlich von russischen Truppen und KGB-Einheiten bewacht. Damit befindet sich das gesamte strategische Atomwaffenarsenal der UdSSR unter slawischer Kontrolle. Kasachstans Präsident Nursultan Nasarbajew wurde nach eigenen Worten von der Vorgehensweise der drei slawischen Republiken überrascht und wiederholte seine Forderung nach „einer politischen Vereinbarung über die zentrale Kontrolle der strategischen Atomwaffen durch ein Zentrum“.

Unübersichtlicher ist die Lage bei den 8.800 taktischen Atomwaffen. Sie befinden sich außer in den vier genannten Republiken auch noch in Georgien, Moldavien, Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan. Nach Aussage des stellvertretenden russischen Verteidigungsministers Alexander Tsalko lagern trotz anderslautender Darstellung Moskaus auch immer noch einige dieser Waffen in den unabhängigen baltischen Staaten. Etwa 1.000 der 8.800 taktischen Atomwaffen befinden sich ständig unterwegs. Organisiert wurden die Bewachung ihrer Standorte und Transporte bislang vom zentralen Moskauer Verteidigungsministerium unter Beteiligung des KGB. Der KGB stellt in der Regel auch die Wachmannschaften. azu