Minsk — eine „strahlende“ Hauptstadt

■ Die Wahl der Haupstadt für die neue Union symbolisiert den Abschied von imperialen russischen Herrschaftsansprüchen

Moskau (taz) — Schon einmal „hatte er im Sinn — ein Fenster nach Europa hin“. „Er“, das war in diesem Falle der russische Zar Peter der Große, dessen Imperium als Rechtsvorläufer der modernen Sowjetunion fungiert. Die „neue Hauptstadt“, die Peter auf Dämmen im Newadelta mit geometrischen Grundrissen plante, erschien den Moskowiter Bojaren fremd und kalt. Zar Peter scherte sich nicht darum, statt dessen schor er den Bojaren die Bärte und verwirklichte seinen Plan auf den Knochen von Gefangenen und Sklaven, die in den Newa-Sümpfen wie die Fliegen an Malaria starben. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts war Sankt Petersburg Hauptstadt Nr. 1, Rußland hatte endlich einen fast eisfreien Hafen. Die Stadt rühmte sich ihrer westeuropäisch beeinflußten Kultur, ächzte aber unter der Last der Ministerien und Ämter. Moskau behielt derweil ganz offiziell seinen „hauptstädtischen Status“, dort ließen sich die Häupter der Zarenfamilie krönen, und dort residierte der Patriarch der russisch-orthodoxen Staatskirche. Die Moskauer Kaufleute (sowie deren Ehefrauen) wucherten — fern von den Petersburger bürokratischen Schranzen — fröhlich mit ihren Pfunden.

Aus „alt“ „neu“ und umgekehrt machten die Bolschewiki, wie in vielen anderen Fällen, auch in der Hauptstadtfrage. Am 18. März 1918 ernannte Lenin Moskau zur Hauptstadt, weil er sich während des auf die Revolution folgenden vierjährigen Bürgerkrieges im Kreml besser einigeln konnte. Petersburg wurde seit den 20er Jahren ruhiger. Nach dem Tode Lenins 1924 wurde das „Venedig des Nordens“ in Leningrad umbenannt. Ein Beschluß, den die Bürger jetzt per Referendum rückgängig machten.

Daß Minsk nun als Hauptstadt der neuen slawischen Union anvisiert wird, zeugt von dem ehrlichen Willen der russischen Führung, sich von dem imperialen Herrschaftsanspruch zu distanzieren, den die russischen Großfürsten seit dem 15. Jahrhundert von Moskau aus verfolgten. Auch in diesem Fall macht sich wieder der Wunsch bemerkbar, den Blick demonstrativ nach Westen zu richten. Minsk wäre garantiert eine „strahlende“ Hauptstadt. Bürgerinitiativen schätzen, daß nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl dort Wasser aus den Hähnen fließt, das nach den Maßstäben der Weltgesundheitsorganisation kaum trinkbar ist, daß unverstrahlte Lebensmittel eine Rarität sind. Nachdem die Deutschen im Zweiten Weltkrieg buchstäblich keinen Stein auf dem anderen ließen, wurde Minsk in den 50er Jahren in einem recht erträglichen Stil neu errichtet — schon ohne stalinistischen Pomp und bisweilen mit Bauhaus-Anklängen. So gesehen kommt sie der Forderung des Moskauer Bürgermeisters Gawril Popow nahe, der seine Stadt nur zu gern von den dahinsiechenden Unionsministerien befreit sähe. Die neue Union möge sich ihre Hauptstadt doch irgendwo in der Tundra bauen, beschied Popow: ein „postsowjetisches Brasilia“. Barbara Kerneck