Gorbatschow versucht Gegenangriff

Der Präsident will den Volksdeputiertenkongreß reaktivieren und fordert ein Referendum über die Union/ Kasachstan wartet ab/ Schwache Opposition gegen das Commonwealth-Projekt in Moskau  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

„Ich wach' auf und: wutsch — die Sowjetmacht ist futsch!“ So etwa könnte auf deutsch die Zeile aus einem beliebten Moskauer Gassenhauer lauten, mit der am Dienstag morgen die 'Komsomolskaja Prawda‘ ihre Zusammenfassung der Ereignisse in und um Minsk übertitelte. In Moll intonierte dagegen die 'Prawda‘: „Zum Schmerz unserer Herzen ist die gleichsam in dichtem Nebel verschwimmende Sowjetunion ins historische Nichtsein dahingeschwunden, jene Gemeinschaft, in der wir mehr schlecht als recht, aber doch relativ stabil und im Glauben an eine sichere Zukunft gelebt haben!“ Michail Gorbatschow, der Präsident der so poetisch besungenen Dahingeschiedenen, versuchte am Montag eine Offensive gegen das Commonwealth-Projekt Rußlands, Weißrußlands und der Ukraine zu starten. In einer Fernseherklärung sprach er den drei Republikspräsidenten das Recht ab, über das Schicksal der UdSSR zu entscheiden. Er will den Kongreß der Volksdeputierten, der nach seiner unrühmlichen Rolle während des August-Putschs von der Bildfläche verschwand, wieder in die Rolle des Souveräns einsetzen. Auch eine Volksabstimmung schloß er nicht aus. Die Parlamente der einzelnen Republiken rief er auf, den Vertragsentwurf für eine erneuerte Union und „die in Minsk getroffenen Vereinbarungen“ parallel zu erörtern.

Der Präsident ohne Land sah „einige positive Momente“ in dem Brester Abkommen wie die Beteiligung der Ukraine oder das Ziel einer gemeinsamen Wirtschafts- und Verteidigungspolitik. Aber das „Ende der Union“ zu proklamieren, sei „widerrechtlich und gefährlich“. Als Echo sämtlicher Forderungen Gorbatschows fungiert immer noch Kasachstans Präsident Nasarbajew. Mit unheilverkündender Miene demonstrierte er nach dem Treffen im Kreml seine Gekränktheit. Per Telefon habe er noch am Vorabend des Minsker Treffens Jelzin, Krawtschuk und Schuschkewitsch um Auskunft gebeten, was sie denn im Schilde führten, ohne eine wahrheitsgemäße Auskunft zu erhalten. Nicht unberechtigt erscheint angesichts dessen die Frage der 'Prawda‘: „Kann der ,Dreibund‘ zum Kristallisationskern werden, um den eine neue Gemeinschaft wächst?... Wird nicht das freche ,Auf ihr Slawen!‘ Kasachstan, die mittelasiatischen Republiken, den Kaukasus und Moldowa endgültig abstoßen?“ Daß das mächtige Kasachstan vorerst nicht zu einem Alleingang ohne die islamischen Bruderländer aus dem Armenhaus Mittelasien bereit ist, darauf deutet deren koordiniertes Erscheinen am Montag im Kreml hin. Als einzige der ehemaligen Sowjetrepubliken hat bisher Armenien positiv auf die Einladung zum Anschluß an den Dreibund reagiert. Als „historischen Schritt zur grundlegenden Erneuerung der Union zwischen den ehemaligen Sowjetrepubliken gemäß den Prinzipien des Völkerrechtes“ würdigte Präsident Ter-Petrosjan die Slawen-Initiative.

Nicht nur keinerlei Ursache zur Panik, sondern Grund zur Hoffnung besteht auch nach Ansicht der meisten Moskauer. Vielfach wird darauf hingewiesen, daß die Kontrolle der Atomwaffen in den drei slawischen Republiken über drei „Knöpfchen“, die nur gemeinsam gedrückt werden können, mehr Sicherheit verspricht als der jetzige Auslösemechanismus in der Hand des UdSSR-Präsidenten. Gegen den Minsker Vertrag haben sich von den zahlreichen russischen Parteien bisher nur die „Liberal-Demokratische Partei“ des rechtsnationalen Wladimir Schirinowskij und die „Demokratische Partei Rußlands“ des charismatischen Deputierten Nikolaj Trawkin gewandt. Etwa 200 Schirinowskij-Anhänger hatten am Sonnabend vor dem Moskauer Gefängnis „Matrosenruhe“, in dem die Putschisten einsitzen, für deren Freilassung demonstriert. Eine Losung lautete dabei: „Frauen, schließt euch uns an, wenn ihr nicht wollt, daß eine Wurst 120 Rubel kostet.“ Trawkin rief für den Dienstag abend zu einer Kundgebung auf dem Moskauer Manege-Platz auf, er spricht Jelzin die Vollmacht zum Abschluß des „Commonwealth“ ab. Die Jelzin-Beraterin Starowoitowa kommentierte: „Wir wollen einmal sehen, wie viele kommen und wofür sie mehr demonstrieren: für die alte Union oder für neue Wurst?“

Szenenwechsel aufs internationale Parkett: Angesichts des UdSSR- Exitus dringen die USA und die Europäische Gemeinschaft vor allem auf eine sichere Kontrolle der sowjetischen Atomwaffen und auf die Einhaltung der internationalen Verträge, wie 'ap‘ meldete. Der britische Premierminister John Major unterstützte den französischen Vorschlag einer Konferenz aller europäischen Atomwaffenmächte und der USA. Jean Musitelli, Sprecher Mitterrands am Rande des EG-Gipfeltreffens in Maastricht: „Die Notwendigkeit einer solchen Konferenz ist jetzt jedermann klar, und die Briten sind in der Frage sehr kooperativ geworden.“ US-Präsident George Bush hofft auf den Verbleib der Atomwaffen unter einem einheitlichen Kommando. Jelzin habe Bush in einem Telefongespräch versichert, daß „die Angelegenheit verantwortungsbewußt gehandhabt wird“, sagte Sprecher Fitzwater am Montag. Im übrigen strebten die USA eine weitere Zusammenarbeit an, „welche Regierung auch herauskommt oder welche Form einer Föderation auch herauskommt“. Die gegenwärtige Entwicklung wolle er nicht kommentieren.