Patchworkfamilie und Systemzerfall

■ Eltern und Kinder im Drama von Trennung und Neubeginn, das produktive Kräfte freisetzen kann

Die gesellschaftlichen Umbrüche unserer Zeit beschleunigen den Zerfall der Familie. Alternative Paarbeziehungen mit und ohne Kinder vergrößern Jahr um Jahr den bunten Flickenteppich, der sich durch die herkömmliche Familienlandschaft zieht. In Amerika wurde dafür der griffige Begriff »Patchworkfamilie« geprägt. Aber so vielgestaltig und kreativ die Alternativen auch aussehen, so lang ist meistens noch der Leidensweg bis zu einem geglückten Neubeginn. Die Kinder, sagt man, sind die Hauptleidtragenden, und in der Öffentlichkeit reißen die Klagen über ihr bedauernswertes Schicksal nicht ab. Hier erscheinen mir neue Akzentsetzungen notwendig.

Erstens haben wir unter einer historischen und globalen Perspektive zu realisieren, daß Kindheit noch nie das »Paradies und die glücklichste Zeit des Lebens« war. Im Gegenteil, Kindesopfer, Kindesaussetzung, Kindestötung, Kindesmißhandlung, Kindesausbeutung, ob als Arbeitskraft oder als sexuelle Opfer, privat oder gewerblich, das millionenfache Kindersterben, ob in Kriegen, durch Hunger oder vermeidbare Krankheiten — von der Frühzeit über das Mittelalter bis in unsere Gegenwart spannt sich die ununterbrochene Kette von Grausamkeiten und unmenschlichem Leid, das Kindern zugefügt wird.

Unter diesem Blickwinkel erleben Scheidungskinder in den westlichen Industrienationen nur eine, und zwar relativ milde Variante der ungezählten Verletzungen von Kinderrechten. Zweitens müssen wir erkennen, daß die oft mitleidlose Verfolgung von Scheidungseltern in der Öffentlichkeit bei gleichzeitiger Überidentifizierung mit den betroffenen Kindern die Situation für alle Beteiligten eher erschwert als entlastet. Alle Appelle an Vernunft und Einsicht der Eltern, ihre Kinder im Trennungsdrama zu schonen, sind zum Scheitern verurteilt, solange das Leiden der Partner von ihnen selbst und der Öffentlichkeit nicht angemessen verstanden wird.

Persönliche und gesellschaftliche Widerstände haben trotz einer inzwischen hundertjährigen Aufklärungsarbeit der Psychoanalyse die Einsicht in die unbewußten Motivationen menschlichen Verhaltens noch weitgehend blockiert. Trotz Freud- Lektüre und Psychoboom sträuben wir uns immer wieder mit »Händen und Füßen«, das heißt mit Gewalt oder Flucht, unsere eigenen Abgründe wahrzunehmen. In Konfliktsituationen steigert sich diese Abwehr zur völligen Blindheit. So reißen besonders Trennungsdramen alle Beteiligten in Gefühlsstrudel von archaischer Ausprägung. Dabei werden in der Regel verschiedene Phasen durchlaufen. Die Trennungsangst steht am Anfang. Ihre Intensität verdankt sich der Wiederholung lebensgeschichtlicher Trennungserfahrungen, die bis zur Urangst der Trennung von der Mutter bei der Geburt zurückreicht. Zur Vermeidung dieser Angst werden in der Protestphase alle Kräfte entfesselt, um den Trennungsverlust ungeschehen zu machen. Dabei wird das Drama voll entfaltet: Wut, Haß, Rache und Neid ergeben eine explosive Gefühlsmischung, bei der das Ich die Kontrolle über das eigene Verhalten vollständig verlieren kann. Wenn die Widerstandskräfte erlahmt sind, muß der Verlassene eine Phase der Depression durchleben, die im günstigen Fall in den Trauerprozeß einmündet. Trauer müssen alle ertragen, der Verlassene ebenso wie der, der geht. In der Trauerphase findet die Auseinandersetzung mit eigener Schuld und Versagen statt; in ihr müssen Illusionen und Ideale aufgegeben werden, Hoffnungen und Utopien, und nicht zuletzt der reale Verlust eines Partners und der Kinder betrauert werden.

Die Trauerphase entscheidet darüber, ob das Vergangene bewältigt werden kann und in eine Versöhnung mündet, die das Trennungsdrama zum Abschluß bringt. Versöhnung bedeutet nicht die Wiederherstellung eines alten Zustandes, sondern das Annehmen der eigenen Grenzen und Unfähigkeiten. Erst die Versöhnung mit sich selbst öffnet auch den Weg zur Versöhnung mit dem anderen, mit dem Zugeständnis seiner Schwächen und den Möglichkeiten eines offenen Dialogs. Nur so kann ein wirklicher Neubeginn mit der Freiheit zu Bindungen mit neuen Partnern gelingen.

Es ist an der Zeit, diese Prozesse bei sich selbst und bei dem anderen besser zu verstehen, damit der fortschreitende Zerfall der Familie nicht zu einer Desintegration gesellschaftlicher Systeme führt. Das tiefere Verständnis dieser Zusammenhänge erleichtert nicht nur den Partnern die Verarbeitung des Trennungsverlustes, sondern schafft auch für Kinder bessere Voraussetzungen, an dem Konflikt zu reifen, statt an ihm zugrunde zu gehen.

Dabei ist noch folgender Akzent wichtig. Die breite Praxis und therapeutische Erfahrung zeigt, daß Kinder nicht nur zu Opfern, sondern auch zu Mittätern im Trennungsdrama werden. Ihr gestörtes Verhalten und ihre Symptome nach der Scheidung sind nicht nur Zeichen des Leides, sondern auch des aktiven Widerstandes, mit dem sie auf spezifische Weise das Drama mitgestalten. Wenn sie dagegen aus Schuldgefühlen in der Opferrolle fixiert werden, wird die produktive Kraft übersehen, mit der sie an der Neugestaltung alternativer Familienformen teilnehmen könnten. Horst Petri

Der Autor ist Hochschullehrer für Psychotherapie und Psychosomatik an der Freien Universität Berlin. Sein letztes Buch »Verlassen und verlassen werden. Angst, Wut, Trauer und Neubeginn bei gescheiterten Beziehungen« ist gerade im Kreuz-Verlag erschienen.