Die Doktrin dominiert

■ Paul Ickes über den neuen deutschen Film

„Was man in Deutschland als zeitnahe Filme versteht — Filme über gegenwärtige Probleme — unterscheidet sich heute nicht wesentlich von früheren Ideen. Es ist eine psychologisch interpretierte und vor den jetzigen Hintergrund projizierte Handlung. Doch die Handlung wird nicht um ihrer selbst willen psychologisch interpretiert, auch ist sie nicht realistisch gedacht, sondern wieder einmal ist es Wunschdenken, Tagträumen: Charaktere werden interpretiert, nicht wie sie sind, sondern wie sie sein sollten. Nicht der realistische Vordergrund dominiert das Szenarium, sondern der Hintergrund, die Doktrin, das Beispiel, die ideologische Absicht. Dem Publikum wird nicht Realität gezeigt, wie sie ist, sondern die Art und Weise, wie es denken und handeln sollte. Nicht die Wirklichkeit der deutschen Verzweiflung und Depression wird gezeigt, sondern der ideologische Zweck dominiert vor dem Hintergrund ruinierter Städte, seine Adressaten sind ausschließlich Deutsche, denen man erzählt: So müßt ihr leben, so denken und handeln. So sollt ihr sein, auf diesem Wege meistert ihr euer Schicksal.

Das ist keine Art, Realität in künstlerische Form umzuwandeln. (...) Ein deutscher Film der Gegenwart muß ein psychologisches Porträt sein, das nicht nur die Ruinen der Städte zeigt, sondern die moralisch ruinierten Menschen, die in ihnen leben. Es ist nicht Koketterie, wenn ein Deutscher diesen Standpunkt vertritt, noch ist es ein Flehen um Gnade, und auch nicht der Wunsch, mehr Mitleid als andere Länder zu erhalten. Es geht nicht um das Vorantreiben einer politischen Idee, sondern um die Schaffung eines Films, der fern von jeder ideologischen Tendenz einen künstlerischen Wert an sich haben sollte.“

Der Text, aus dem diese Passage stammt, ist keineswegs eine kritische Reflexion über das derzeitige Kino und sein Reagieren auf die deutsch-deutsche Realität seit dem Herbst 89. Der Filmkritiker und Publizist Paul Ickes hat seinen Essay über die ersten deutschen Nachkriegsfilme bereits 1947 in der britischen Zeitschrift 'The Penguin Film Review‘ veröffentlicht. Seine Überlegungen, die von unfreiwilliger Aktualität sind, kann man komplett in der neuesten Ausgabe der Zeitschrift 'filmwärts‘ nachlesen, das sein 20. Heft (Glückwunsch!) mit noch ein paar anderen „Geschichten zum deutschen Film“ gefüllt hat, zum Beispiel zwei lesenswerten Interviews mit der 'Terra Filmkunst‘- und späteren DEFA-Dramaturgin Marie-Luise Steinhauer und mit dem Dokumentaristen Jürgen Böttcher. (Für 8 DM zu bestellen bei der Redaktion 'filmwärts‘, Uhdestraße 2, 3000 Hannover 1.)