Pinewood verdient das nicht

Über den Niedergang der britischen Filmindustrie  ■ Von Thomas Langhoff

Schaut man auf die Filmpreise und -starts der letzten Monate, könnte man meinen, das britische Kino boomt wie selten zuvor: Ken Loachs „Riff-Raff“ wurde Anfang Dezember der Felix verliehen, Hanif Kureishis „London kills me“ hatte auf dem Londoner Filmfest Premiere und kommt bei uns im Januar ins Kino. Peter Greenaways Shakespeare-Verfilmung „Prosperos Bücher“ ging dieses Jahr am Lido zwar leer aus, aber Derek Jarmans Christopher-Marlowe-Adaption „Edward II.“ war der Biennale-Jury in Venedig immerhin einen Preis für Darstellerin Tilda Swinton wert; erst im Vorjahr hatte Tom Stoppards „Rosenkranz & Güldenstern“ sogar den Goldenen Löwen ergattert. Aber der Schein trügt. Nach dem Erfolg des New British Cinema und Regisseuren wie Frears, Greenaway, David Leland, Terence Davies oder Mike Leigh ist die Lage mittlerweile schlecht wie nie zuvor. (taz)

Derek Jarman lacht. „Hier sitz' ich nun, hab' neun Filme gemacht, und was kriege ich? 850.000 Pfund!“ Und er lacht das Ausrufezeichen mit.

Nach 15 Jahren Filmemachen hat Jarman für seinen neuen Film Edward II. gerade mal 2,5 Millionen Mark zusammenkratzen können. Für jemanden, der 1986 mit Caravaggio den Silbernen Bären gewann, ist das nicht gerade imponierend. Aber immerhin: Man hat ihm Geld gegeben, und er hat es in Zelluloid verwandelt. Das ist angesichts des augenblicklichen Zustandes der britischen Filmindustrie ein Wunder. Und kein kleines.

Mit 27 Spielfilmen sank die Produktionsrate im letzten Jahr auf einen frustrierenden Tiefpunkt, der in diesem Jahr noch unterboten werden dürfte. Die Investitionen fielen in den letzten fünf Jahren von 750 Millionen auf 375 Millionen Mark. Die Pinewood-Studios liegen oft wochenlang brach. James Bond dreht in Mexiko, Stephen Frears in Amerika. Zwei Drittel der Budgets müssen sich die Produzenten aus dem Ausland holen. Der kleine britische Markt deckt selten die rapide steigenden Produktionskosten. Die Filme müssen also auch in Amerika laufen, was zu ästhetischen Kompromissen zwingt.

Britische Filmemacher schlagen sich an zwei Fronten: An der einen hütet „British Screen“ die staatlich vergebenen Subventionen, an der anderen wachen die Privatfinanziers des Londoner Bankimperiums. An beiden Fronten hat die Spezialistin für kulturelle Beerdigungszeremonien, Margaret Thatcher, die Waffen geputzt.

„British Screen“ war vor 1986 die „National Film Finance Corporation“ (NFFC) und vergab als solche Finanzspritzen vor allem nach „qualitativen“ Kriterien. Das hieß, daß auch dem Populistischen abgeneigte Filmemacher ab und zu ein paar Mark verballern durften. Letzteres gefiel der alten Dame, die das Wort „Subvention“ am liebsten ganz aus dem Vokabular gestrichen hätte, überhaupt nicht: Die „NFFC“ wurde aufgelöst und die Nachfolge-Bank „British Screen“ privatisiert. Neben dem Tory-Schatzmeister, der jährlich sechs Millionen Mark zugesteht, zählen vier private Finanziers — Rank, Cannon, Channel 4 und Granada — zu den Gesellschaftern dieser nun marktwirtschaftlich ausgerichteten Filmbank. „British Screen“, das durchschnittlich 25 Prozent der Produktionskosten übernimmt, erhält erst Staatsgelder, wenn zuvor private Einlagen in der gleichen Höhe eingegangen sind. Experimente und neue Filmemacher fördert nur das British Film Institute (BFI), das bisher von der konservativen Kulturrevolution verschont blieb.

Auch an der Front des privaten Kapitals hat Thatcher die Mechanismen des freien Marktes wieder in Gang gesetzt. Die 1979 eingeführten Steuervorteile für Filminvestitionen, die die Renaissance des britischen Kinos mitinitiierten, wurden 1986 abgeschafft. Niemand ist heute so blöd und steckt sein Geld in risikoreiche Filmproduktionen, wenn ihm Zins- und Wechselkursmanöver höhere Erträge einbringen. Nebenbei kappte die Regentin noch den 12,5prozentigen Aufschlag auf die Kinotickets. Zehn Millionen Mark jährlich schleusten die Kinobesucher auf diese Art in die Produktion. Ein anderes Problem: Die strenge Trennung von Produktion und Verleih läßt viele Produzenten selbst bei ausverkauften Häusern leer ausgehen.

Keine Subventionen für kunstverliebte Low-Budget-Etüden, kein Risikokapital für teure Blockbuster — die Filmindustrie läge vollends brach, gäbe es nicht Channel 4. Der experimentierfreudige TV-Sender lancierte Anfang des letzten Jahrzehnts die Karrieren von Peter Greenaway und Stephen Frears. Obwohl in der letzten Zeit ein wenig müde geworden, produziert der vierte Kanal dennoch ab und zu ein paar Avantgarde-Bonbons wie Peter Greenaways „TV-Dante“. Channel 4 und BBC 2 haben das Zelluloidskelett einerseits vor dem endgültigen Abkratzen bewahrt, andererseits aber amphibienhaft verunstaltet: Auch auf den Leinwänden spielt sich Fernsehen ab.

Eine neue Rundfunkordnung soll ab 1993 den „Independent“-Sektor stimulieren: Alle TV-Sender — inklusive des neu zu formierenden Channel 5 — müssen dann mindestens 25 Prozent ihrer Programme von unabhängigen Produzenten kaufen. Diese werden dann statt der jetzigen 3.000 Stunden jährlich 7.000 Stunden abdrehen. Zur Zeit vergeben die Programmanbieter aber nur wenig Aufträge, da sie für die neuen Lizenzen hohe Summen ausgeben werden müssen.

An Lösungsmodellen für die verfahrene Situation mangelt es nicht, nur fehlt der politische Wille, sie durchzusetzen. Als Richard Attenborough im Sommer 1990 in einer Downing-Street-Audienz seine Klagen loswerden durfte, bekundete Margaret Thatcher ihr Mitgefühl: „Sir Richard, wir haben sie im Stich gelassen“, soll sie geflötet haben, „das tut mir schrecklich leid.“ Sie versprach 15 Millionen Mark für europäische Koproduktionen und beauftragte den BFI-Chef Wilf Stevenson, konkrete Rettungspläne auszuarbeiten. Zu den BFI-Vorschlägen gehörten Steuervorteile, attraktive Bedingungen für ausländische Produzenten und ein Filmbüro, daß britische Filme auf dem internationalen Markt lancieren solle. Der Finanzminister aber wollte nichts von alledem wissen und schickte Stevenson wieder nach Hause. Das BFI hofft darauf, daß es in den laufenden Gesprächen mit dem Finanzministerium doch noch Zugeständnisse herausholen wird.

Lord Hesketh, der als Filmminister ohne Budget in einem Hinterzimmer des Ministeriums für Handel und Industrie sitzt, kam schließlich auf die lustige Idee, eine neue Kommission zu gründen. Stilvoll gab er bei den Filmfestspielen in Cannes Details bekannt: Die Kommission werde ausländischen Produzenten Tips über geeignete Drehorte und eine Einführung in die britischen Steuergesetze geben. Damit die Ratgeber aus den Startlöchern kommen, versprach er ihnen zehn Millionen Mark, verteilt über vier Jahre. (Die zehn Millionen Mark gehen also nicht in die Produktion oder den Verleih.) Das BFI und der Gandhi-Produzent David Puttnam haben nun einen neuen Masterplan ausgeheckt: Sie wollen ein europäisches Studiosystem nach Maßgabe Hollywoods in England großziehen. Europäische Produzenten könnten ihre Produkte dann zweckgemäß in englischer Sprache abdrehen und auf den 245-Millionen-Markt der USA schicken.

„Wenn das bei uns stattfindet, hat es ja nichts mit Europa zu tun“, höhnt Derek Jarman, „alles hier ist antieuropäisch. Macht so was in Berlin oder in Frankreich, aber nicht hier. Pinewood verdient das nicht.“