Wenn Kinder zu Objekten werden...

Willie ist ein vierjähriger philippinischer Junge und kein Einzelfall. Hin- und hergeschoben zwischen leiblicher Mutter, Pflegeeltern, Familiengericht und Jugendamt, soll über sein Wohl entschieden werden. Ein Bericht über „staatlich legalisierte Kindesmißhandlung“ und die Notwendigkeit der Ratifizierung der UN-Kinderkonvention  ■ VON ELISABETH ROHR

An einem kalten Winterabend im Januar 1989 fand die Übergabe statt. Vor der Villa Berg bei Karlsruhe wurde ein kleiner philippinischer Junge — er war knapp vier Jahre alt — von seiner Mutter in das wartende Auto der Familie Fischer* geschoben. Er umklammerte eine Plastiktüte voll schmutziger und sauberer Wäsche. Ohne Protest und ohne Zögern kletterte er auf den Rücksitz des Autos. Seine Mutter umarmte ihn nicht, streichelte ihn nicht ein letztes Mal. Es fiel kein Wort des Abschieds. Auf dem Weg nach Frankfurt blieb Willie* die ganze Zeit über stehen und hielt sich krampfhaft am Vordersitz fest. Erst am Flughafen, als sie in einen Stau gerieten und die Flugzeuge beim Landeanflug mit aufgeblendeten Lichtern über sie hinwegbrausten, erwachte er aus seiner Starre, deutete aufgeregt auf die Flugzeuge und sagte: „Aeroplane, aeroplane.“ In den nächsten Tagen erkundete er vorsichtig seine neue Umgebung, vermied jedoch ängstlich jeden körperlichen Kontakt. Er ließ sich weder waschen noch an- oder auskleiden. Schließlich überwand er seine Scheu und ließ sich von seinem Pflegevater mit unter die Dusche nehmen. Doch kaum standen sie da, griff Willie nach dem Penis seines Vaters und begann heftig daran zu saugen. Zum Erschrecken seiner Pflegefamilie wiederholte sich dies mehrfach, auch mit dem älteren Pflegebruder.

Auffällig waren auch seine Tischmanieren, die an die autoritäre Dressur früherer Erziehungsanstalten erinnerte. Kerzengerade saß er auf seinem Stuhl, die Hände flach auf die Tischplatte gepreßt, besorgt die Teller der anderen beobachtend, ob sie auch nicht mehr zu essen hatten als er.

Doch binnen weniger Wochen gab er seine starre Haltung auf, saß nicht mehr wie ein „dressierter Hund“ am Tisch, ließ sich gerne von seiner Pflegemutter an- und auskleiden und verlor schnell jegliches Interesse an den Geschlechtsorganen seines Pflegevaters und -bruders. Innerhalb von drei Monaten sprach er bereits relativ gut Deutsch, fand die Wohnung groß und liebte Minou, die Katze, hingebungsvoll. Oft stand er im Hinterhof und schrie aus Leibeskräften: „Mama, Papa, Mama, Papa“, unzählige Male und mit wachsender Begeisterung, so als hätten diese Worte zum ersten Mal in seinem Leben eine Bedeutung für ihn gewonnen.

Ein Jahr Zeit für ungetrübtes Glück

Genau ein Jahr lang hatte er Zeit, ungetrübt glücklich zu sein. Dann stand eines Tages seine Mutter mit der Boulevard-Presse vor dem Haus und verteilte Flugblätter, auf denen sie die Pflegefamilie mit Namen und Adresse anschuldigte, ihr Kind geraubt zu haben. Das Gericht wies jedoch ihr Ansinnen, das Kind sofort an sie herauszugeben, zurück und forderte statt dessen ein psychologisches Gutachten an, das unter anderem klären sollte, „ob eine Herausnahme des Kindes... eine Gefährdung des Kindeswohles darstellen würde... und ob und auf welche Art gegebenenfalls ein Umgang der Kindesmutter mit dem Kind ermöglicht werden kann“.

Das von der renommierten Psychologin Gebhard-Jaekel erstellte Gutachten kommt zum Ergebnis, daß eine sofortige Rückführung zur Mutter aus psychologischer Sicht abzulehnen ist, „da sie nur mit ,Brechung des Kinderwillens‘ und unter Ignorierung sämtlicher Risiken realisierbar wäre“.

Willie hatte auf die von der Therapeutin arrangierten Kontakte mit der Mutter mit allen Anzeichen der Panik, überwältigender Angst und massiver Abwehr reagiert. Ausdrücklich empfiehlt das Gutachten deshalb eine Umgangsregelung, die es Willie erlaubt, „von seiner Warte aus“ sich behutsam der Mutter anzunähern: „Maßstab der Umgangsregelung sollte die Angst des Kindes sein. Willie darf nicht unter ,Überfahren‘ seiner Angstsignale zu Kontakten mit der Mutter genötigt werden... Dies gilt auch für Aufenthalte Willies im Umfeld der Mutter: kurze, ausdrücklich als ,Besuch‘ deklarierte Aufenthalte dort sind vertretbar, wenn eine Person von Willies Vertrauen ,greifbar‘ ist, so daß sich bei ihm nicht die Angst, verlassen, ,aufgegeben‘ zu sein, einstellt, ehe er sich nicht einer anderen sicheren Bindung überlassen kann.“

Gutachten mit erwünschtem Ergebnis

Ob es die Differenziertheit und Sensibilität dieses ersten Gutachtens waren, oder ob es schlicht die offengelassene Frage einer gelingenden oder mißlingenden Annäherung Willies an die Mutter war, die das Frankfurter Jugendamt und das Amtsgericht überforderten, mag dahingestellt bleiben. Für die Gestaltung der Umgangskontakte beauftragte der mit diesem Fall betraute Richter B. jedenfalls eine Heilpädagogin, Frau H., die in ihrer abschließenden „Psychologischen Begutachtung“ zu dem offensichtlich von Jugendamt und Gericht erwünschten Ergebnis kommt. Familie Fischer übt — so heißt es da — einen geradezu schädlichen Einfluß auf das Kind aus; die Geborgenheit, die es hier erfährt, die Liebe und Zuwendung, die ihm hier zuteil werden, sind nichts als neurotische Ausflüsse einer „magischen Beziehungsstruktur“. Es „kann nicht davon ausgegangen werden, daß Willie bei Familie Fischer tatsächlich verwurzelt ist“. Im Gegenteil: „Die Umklammerung von Frau Fischer bedeutet eine Gefährdung für Willies weitere psychische Reifung... In seinem anklammernden Verhalten ist Willie schon jetzt gestört.“ Daß nicht nur Frau Gebhard- Jaekel, sondern auch der Kinderarzt Dr. von Lübke jeweils in ihren Gutachten zu völlig gegenteiligen Ergebnissen gekommen waren und daß das regressiv-anklammernde Verhalten bei Pflege- und Adoptionskindern geradezu als ein klassisches Symptom von zuvor erlittenen Deprivationen im emotionalen und physischen Bereich gilt, kann Frau H.s festgefügte Vorurteile nicht erschüttern. Die leibliche Mutter ist nämlich in ihren Augen nichts weiter als das unschuldige Opfer des Grafen Adelsmann, der sie mit falschen Versprechungen herlockte und sie zwang, die Kinder (Willie und seinen jüngeren Bruder) zur Adoption freizugeben (was das Gericht als Schutzbehauptung zurückwies). Die auffällige Beziehungslosigkeit zwischen Mutter und Kind ist — so Frau H. — lediglich Ausdruck einer „asiatischen Mentalität“, die nach wie vor vorhandene Panik- und Angstreaktion Willies lediglich Zeichen eines inneren Konflikts und der Trauer: In Wirklichkeit sehnt sich Willie verzweifelt nach seiner Mutter und befindet sich in einem schweren inneren Konflikt, weil er befürchtet, die Pflegefamilie zu enttäuschen, wenn er zur leiblichen Mutter zurückkehrt.

In seinem Gutachten hält der mit Vormundschaftsangelegenheiten erfahrene Pychologe Frick zentrale Kritikpunkte fest: Frau H. verfüge offensichtlich weder über die notwendige Neutralität und Distanz zu diesem Fall noch über die notwendige psychologische Kompetenz noch über hinreichendes Einfühlungsvermögen in kindliches Erleben, um die Gestaltung und Auswertung der Umgangsregelung im Interesse des Kindeswohles durchzuführen.

Vieles wird in der Begutachtung Frau H.s nicht mehr erwähnt oder schlicht als unbedeutsam vom Tisch gekehrt. Etwa, daß Willie mit allen Mitteln versucht, sein Glück und seine tiefe Bindung in der Pflegefamilie zu retten. Daß die Mutter nicht nur Willie, sondern auch seinen jüngeren Bruder zur Adoption freigab und niemals in der ganzen Zeit versuchte, persönlich Kontakt mit ihrem Kind aufzunehmen. Daß sie ihre in der polizeilichen Anzeige beschriebene ausweglose und von Armut gekennzeichnete Lebenssituation, wohl aus Scham, im nachhinein durch immer phantastischere Schilderungen über ihre gutbürgerliche Mittelschichtsfamilie versucht zu überdecken. Daß Willie wahrscheinlich von einem „homosexuellen Babysitter“ sexuell mißbraucht wurde und jetzt zum ersten Mal in seinem Leben wichtige positive Erfahrungen mit männlichen Bezugspersonen macht. Frau H. jedenfalls unterstützt das Ansinnen der Mutter rückhaltlos und empfiehlt, Willie unverzüglich aus seiner Pflegefamilie zu entfernen und in einem Heim unterzubringen, in dem die Beziehung zur Mutter, ungestört von den schädlichen Einflüssen der Pflegefamilie, sich entwickeln und er sein Trauma aufarbeiten und die „Auseinandersetzung mit der Mutter“ führen kann.

Jugendamt und Gericht sind inzwischen unbeugsam in ihrem Entschluß, das Kindeswohl aufs Gröbste zu gefährden. Daß selbst ein zunächst so besonnen reagierender Richter wie Herr B. sich mittlerweile den Empfehlungen der Heilpädagogin uneingeschränkt anschließt und die Unterbringung im Heim befürwortet, ist nicht nachvollziehbar. Verständlich wird diese Haltung allerdings auf dem Hintergrund der Lebensgeschichte von Richter B., der selbst als Kind „zwei Jahre geparkt war“ und dann zu den leiblichen Eltern zurückkehrte.

Die Pflegeeltern waren unterdessen bemüht, in direktem Kontakt mit der leiblichen Mutter eine Lösung aus der verfahrenen Situation zu finden. In vielen mühsamen, von Jugendamt und Caritas unterstützten Gesprächen einigten sie sich auf einen Ausweg aus der Sackgasse: die Pflegeeltern verhelfen der leiblichen Mutter zu einer Wohnung in ihrer Nähe und Willie erhält die Chance, langsam und behutsam eine Annäherung an die Mutter zu vollziehen und dabei Kontakt zu halten zu den Pflegeeltern, zu den vielen Freunden im Haus, zu den Freunden im Kindergartens und ohne die Schule, in die er gerade eingeschult wurde, verlassen zu müssen. Die Mutter schien genauso glücklich über diese Lösung wie die Pflegeeltern, doch dann machte ihre Anwältin einen Strich durch die Rechnung. Sie beharrte auf dem bisher eingeschlagenen Rechtsweg und einer — wenn notwendig — gewaltsamen Herausnahme aus der Pflegefamilie und der Einweisung ins Heim, da die Mutter — so war die Begründung — sich andernfalls selbst aller Rechtsmittel beraubt. Mittlerweile hat sich die Mutter dieser Auffassung angeschlossen und die Lösung, die so nahe gerückt schien, ist wieder in weite Ferne gerückt.

Willie — kein Einzelfall

Wäre Willie nur ein unrühmlicher Einzelfall, so könnte man das Schicksal dieses Kindes auf ein singuläres Versagen von Menschen zurückführen, die aber ansonsten in ihren Entscheidungen das Kindeswohl zu schützen wissen. Doch Willie ist nur einer von vielen und das Versagen von Familien- und Jugendrichtern und Jugendämtern gar nicht so selten. Nicht nur im Pflegekinderwesen, sondern auch bei Sorgerechtsentscheidungen bleibt das Kindeswohl oft auf der Strecke. Uwe-Jörg Jopt, Professor für Psychologie an der Universität Bielefeld, hat in seinem kürzlich erschienenen Beitrag im Zentralblatt für Jugendrecht die „staatlich legalisierte Kindesmißhandlung“ an den Pranger gestellt und damit an ein Tabu gerührt. Denn der Deutsche Familiengerichtstag e.V., die richtungsweisende Kraft im deutschen Familienwesen, hat es noch nie für notwendig gehalten, sich mit diesem brisanten Thema öffentlich auseinanderzusetzen. Allzu Anrüchiges könnte dabei offenkundig werden.

Zwar hat das höchste deutsche Gericht schon vor vielen Jahren die Wahrnehmung der uneingeschränkten Menschenwürde des Kindes unter verfassungsrechtlichen Schutz gestellt. Doch steht die familiengerichtliche Entscheidungspraxis dazu oft genug im Widerspruch. Professor Jopt hat in seinem Bericht auf mehrere Fälle aufmerksam gemacht, in denen die Menschenwürde des Kindes mißachtet und der verfassungsrechtliche Schutzauftrag außer Kraft gesetzt wurde. Jopt spricht deshalb offen von „staatlich legalisierter Kindesmißhandlung“. Kinder werden zu Objekten degradiert, ihres freien Willens beraubt. Denn weigern sich Kinder — so Jopt —, im Fall von Sorgerechtsentscheidungen bei jenem Elternteil zu bleiben, dem sie zugesprochen wurden, so ist dies in der Auffassung vieler Gerichte und Jugendämter nur der Beeinflussung des Nichtsorgeberechtigten zuzuschreiben. Die Weigerung des Kindes wird dann mit staatlicher Gewalt beantwortet. Jopt fragt deshalb: „Sind viele unserer Richter und Richterinnen folglich unmenschlich?“ Mag sein. Da aber gerade bei der berufsmäßigen Beschäftigung mit Familen-, Kinder- und Elternkonflikten immer auch die eigenen, oft unbewältigten Kindheitskonflikte angerührt und virulent werden, bleibt es gar nicht aus, daß diese oft unbewußt richterliche Entscheidungen mit beeinflussen können.

Nicht nur die (psychologische) Beratung von Konfliktparteien, sondern auch die Einführung einer obligatorischen Supervision für alle im Kinder- und Jugendhilfebereich und im Familienwesen Tätigen, wäre deshalb nicht nur sinnvoll, sondern auch notwendig. Denn hier gäbe es die Möglichkeit, mit einer außenstehenden und institutionell unabhängigen Person belastende und komplizierte Fälle durchzusprechen und eigene „blinde Flecken“ in der Wahrnehmung und Einschätzung einer Situation aufzuklären. Vermieden werden könnte so auch eine Eskalation des Konfliktes und eindeutige Schuld- beziehungsweise Rollenzuweisungen wie im Fall „Willie“. Weder sind die Pflegeeltern nur die uneinsichtigen Egoisten, die starr an „ihrem Besitz“ festhalten, noch die Mutter alleine ein unschuldiges Opfer fremder Bösewichte.

Trotzdem bedarf es gesetzlicher Regelungen, die eindeutig das Kindeswohl in den Mittelpunkt stellen. Eine wesentliche Verbesserung verspricht hier die von der Bundesregierung noch zu ratifizierende UN-Kinderkonvention. In diesem von den UN am 20.11.1989 bereits verabschiedeten Übereinkommen werden die Rechte des Kindes umfassend geregelt. Die Kinderkommission des Deutschen Bundestages, zusammengesetzt aus Parteienvertretern von CDU, FDP, SPD und PDS, erarbeitet zur Zeit gesetzliche Rahmenbedingungen. In der Gesetzesvorlage wird unter anderem festgelegt, daß kein Kind „willkürlichen oder rechtswidrigen Eingriffen in sein Privatleben... ausgesetzt werden“ darf (Art. 16), daß die Identität des Kindes zu schützen und zu wahren ist (Art. 8), daß ein Kind Anspruch hat auf den besonderen Schutz und Beistand des Staates, wenn es „vorübergehend oder dauernd aus seiner familiären Umgebung herausgelöst wird oder ihm der Verbleib in dieser Umgebung im eigenen Interesse nicht gestattet werden kann“ (Art. 20), und daß einem Kind das Recht eingeräumt wird, „in allen das Kind berührenden Gerichts- und Verwaltungsverfahren entweder unmittelbar oder durch einen Vertreter oder eine geeignete Stelle im Einklang mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften gehört zu werden“ (Art. 12,2).

Die Bundesregierung weigerte sich bislang, das Übereinkommen ohne eine entsprechende Zusatzerklärung zu ratifizieren. Sie behauptet, daß die Bundesrepublik Deutschland bereits alle Bestimmungen erfüllt und betont gleichzeitig, daß innerstaatliches Recht in einigen Punkten von der Konvention nicht angetastet werden darf. Hierbei handelt es sich vor allem um „die gesetzliche Vertretung Minderjähriger bei der Wahrnehmung ihrer Rechte“, um das Erbrecht unehelicher Kinder, das Sorgerecht und das Asylrecht widerrechtlich eingereister Flüchtlingskinder. Diese von der Bundesregierung erwünschte Zusatzerklärung ist jedoch äußerst umstritten.

Doch wie immer der von der Kinderkommission vorbereitete Kompromiß aussehen wird, für Willie kommt die Ratifizierung zu spät. Dieser Tage wird das Gericht entscheiden. Sein jüngerer Bruder wurde bereits den Pflegeeltern weggenommen und in ein Heim gebracht.

* Namen geändert.

Elisabeth Rohr ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Frankfurt mit dem Schwerpunkt interkulturelle Sozialisationsforschung und Gruppenanalytikerin.