Geschützter Lebensabend für einen NS-Verbrecher

Nach Angaben des französischen Rechtsanwalts Serge Klarsfeld bemüht sich die französische Regierung derzeit, den Aufenthaltsort des seit langem gesuchten Naziverbrechers Alois Brunner zu ermitteln, der seit über dreißig Jahren in Syrien lebt. Dort war er am Aufbau des Geheimdienstes beteiligt — und es gibt Hinweise, daß er außerdem in den Diensten des BND stand. Um seine Auslieferung wollen sich Frankreich und die BRD gemeinsam bemühen. Außenpolitische Erwägungen von Staatspräsident Assad könnten zu Folge haben, daß Brunner jetzt seine Protektion verliert.  ■ VON THOMAS DREGER

„Die rechte Hand des Teufels“, nennt ihn der Leiter des jüdischen Dokumentationszentrums in Wien, Simon Wiesenthal. Alois Brunner, Stellvertreter und persönlicher Sekretär Adolf Eichmanns, wird für den Tod von 120.000 Juden verantwortlich gemacht. Es sei unmöglich zu sagen, „wer von ihnen, Eichmann oder Brunner, der Ärgere gewesen wäre“, meint Wiesenthal: „Sie sind ein gleichberechtigtes Zweigestirn des Todes.“ Aber während Eichmann 1962 in Israel am Galgen endete, lebt Brunner seit über 30 Jahren unter den Namen Dr. Georg Fischer oder Fescoer in Syrien. Dort machte er Geschäfte, half tatkräftig beim Aufbau der syrischen Geheimdienste und stand möglicherweise sogar auf den Gehaltslisten des Bundesnachrichtendienstes (BND) und einer bundesdeutschen Raketenfirma.

Seine Aktivitäten verhalfen Brunner im politischen Establishment Syriens zu hohem Ansehen. Die Regierung stellte ihn unter ihren besonderen Schutz und quartierte ihn in einem Apartment im dritten Stock der George-Haddad-Str.7 ein — mitten im Damaszener Diplomaten- und Reicheleute-Viertel. In der Küstenstadt Lattakia hat Brunner außerdem einen Feriensitz. Aus seiner Tätigkeit für den syrischen Geheimdienst hat er nie einen Hehl gemacht. Nachbarn berichteten dem Pariser Anwalt und „Nazijäger“ Serge Klarsfeld in Damaskus, Brunner habe sich damit gebrüstet, für die syrischen Unterdrückungsdienste „neue Foltermethoden“ zu entwickeln.

Ein alter Mann, der nichts bereut

Sein Apartment mußte Brunner kürzlich räumen. Nach Informationen von Klarsfeld wurde er am 15.Oktober mit einem Krankenwagen an einen unbekannten Ort transportiert. Brunners Wohnung sei sofort von einem syrischen Geheimdienstler bezogen worden.

Die Anwesenheit des Naziverbrechers in Damaskus war von der syrischen Führung stets bestritten worden, was den Regierungsintimus aber nicht daran hinderte, gelegentlich Telefoninterviews zu geben. 1985 empfing er sogar in Damaskus Reporter der Illustrierten 'Bunte‘. Ihnen präsentierte er sich als alter Mann, der nicht bereue, daß er „das Zeug hinausgeschafft“ habe. Gemeint waren die unter seiner Aufsicht deportierten und ermordeten Juden.

Die regierende Baath-Partei hat sich in den vergangenen Jahren in einer außenpolitischen Spitzkehre vom unnachgiebigen Klienten Moskaus in einen Aspiranten auf Vollmitgliedschaft im prowestlichen Lager verwandelt. Die offensichtliche Präsenz Brunners in Damaskus paßt also nicht mehr in die syrische Politik. Schließlich könnte beispielsweise die israelische Delegation im Verlauf der Nahost-Friedensverhandlungen auf den Massenmörder in Damaskus zu sprechen kommen — als Antwort auf das vom syrischen Außenminister Faruq Asch-Schar'a in Madrid präsentierte Fahndungsfoto von Jizchak Schamir. Zur Vermeidung solcher Peinlichkeiten ist die Baath-Partei folglich auf der Suche nach einem neuen Gesicht.

Der kosmetischen Operation in Damaskus sollen nach Informationen von Diplomaten bereits der als „Superterrorist“ international gesuchte „Carlos“ und seine deutsche Lebensgefährtin Magdalena Kopp zum Opfer gefallen sein. Auch sie genossen jahrelang den Schutz von Hafis el-Assad. Nachdem die Syrer vergeblich versucht haben, sie unter falschen Namen nach Libyen und in den Jemen abzuschieben, sind die beiden angeblich im Irak gelandet. Ähnliches wird über Ahmad Dschibril berichtet, dem Chef der von Syrien selbst gegründeten „Volksfront zur Befreiung Palästinas — Generalkommando“ (PFLP-GC).

Brunner war Eichmanns „bester Mann“

Ob die syrische Führung dem gebürtigen Österreicher Alois Brunner ein ähnliches Los zugedacht hat, bleibt abzuwarten. Beate Klarsfeld wurde am Montag aus Syrien ausgewiesen. Serge Klarsfelds deutsche Ehefrau war unter falschem Namen eingereist, um dort zum wiederholten Mal für Brunners Auslieferung zu demonstrieren. Der Gesundheitszustand des 79jährigen, der durch zwei Briefbomben des israelischen Geheimdienstes Mossad ein Auge und mehrere Finger verlor, ist nach Angaben Serge Klarsfelds schlecht. Brunner, so Klarsfeld, sei darauf angewiesen, „ständig in der Nähe von Ärzten zu sein“. Der Anwalt glaubt, daß sich „die Syrer nun entscheiden müssen. Am schlimmsten wäre es für sie, wenn Brunner in Damaskus stirbt und sie ihn nicht für tot erklären können, weil es ihn dort offiziell gar nicht gab. In der öffentlichen Meinung würde er dann ewig in Damaskus weiterleben.“

Alois Brunners frühere Tätigkeit hat eine lange Blutspur quer durch Europa gezogen. Bis Februar 1943 organisierte er unter anderem als Chef der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ in Wien die Deportation von 47.000 Juden in die Konzentrationslager im besetzten Polen.

Danach beorderte Eichmann seinen „besten Mann“ nach Saloniki, wo Brunner die Deportation griechischer Juden organisierte. Das Athener Justizministerium macht ihn heute für die Ermordung von 50.000 griechischen Juden verantwortlich. Ein Leutnant der deutschen Wehrmacht, der ebenfalls aus Österreich kam, weiß über diese Zeit zu berichten: „Sechs Kilometer außerhalb von Saloniki lag unser Stab.“ Der Leutnant heißt Kurt Waldheim und ist heute UN-Generalsekretär im Ruhestand und österreichischer Bundespräsident. Er will dort allerdings von Brunners Tätigkeiten und anderen Greueln der deutschen Besatzer rein gar nichts mitbekommen haben.

Im Juni 1943 schickte Eichmann den SS-Mann Brunner nach Paris, wo er das Durchgangslager Drancy leitete. Die Wände seines dortigen Büros wiesen nach Augenzeugenberichten Blutspritzer und Spuren abgefeuerter Kugeln auf. Gemeinsam mit dem als „Schlächter von Lyon“ bekannten Klaus Barbie suchte und massakrierte er jüdische Flüchtlinge in Südfrankreich. Als Brunner Frankreich verließ, hatte er 23.000 Juden von dort deportiert. Als „Experte“ wurde er auch in die Slowakei gerufen, wo er 14.000 Juden verschleppen ließ. Dann zog er nach Ungarn und half bei der Deportation von 12.000 Menschen.

„Brunner war Gehlens Vertrauensmann“

Der Hauptsturmführer der SS Brunner mit der SS-Nr. 3427676 steht auf der ersten Kriegsverbrecherliste der Alliierten. Ein französisches Militärgericht verurteilte ihn 1953 zum Tode. Die Bundesrepublik und im Mai 1990 auch die DDR, sowie Frankreich und Österreich beantragten in Syrien seine Auslieferung.

1954 tauchte Brunner unter dem Namen Georg Fischer in Ägypten auf. Von Kairo zog er nach Damaskus. Nach Angaben des 'Spiegel‘ eröffnete er dort die Handelsfirma „Kathar Office“. Die 'Bunte‘ will von seiner Tätigkeit als Vertreter von „Dortmunder Bier“ und einer Bielefelder Textilfirma wissen. Nach Angaben Wiesenthals arbeitete Brunner auch für den staatlichen Pharmaziekonzern „The Arab Medical Corporation“ (THAMECO), für die er auch medizinisches Gerät aus Deutschland importiert haben soll. Serge Klarsfeld berichtet von Brunners Tätigkeit bei dem von der arabischen Liga in Damaskus eingerichteten Büro für den Boykott Israels.

Daß Brunner im Nahen Osten für den Bundesnachrichtendienst und die bundesdeutsche Raketenfabrik „Orbital Transport und Raketen AG“ (OTRAG) gearbeitet haben soll, behauptet der Berliner Publizist Michel R. Lang. Lang, dessen Vater im Lager Drancy interniert war, beruft sich auf einen pensionierten BND-Mitarbeiter, der ihm gegenüber erklärt habe: „Brunner war der Vertrauensmann Gehlens bei den verschiedenen syrischen Regierungen und Vertreter der OTRAG in Damaskus.“

Der NS-General und Chef des Nazi-Aufklärungsdienstes „Fremde Heere Ost“ (FHO), Reinhard Gehlen, gründete 1946 auf Wunsch der US-Amerikaner die „Organisation Gehlen“, die 1955 in „Bundesnachrichtendienst“ (BND) umgetauft wurde. Gehlen, aus dessen Organisation auch der „Militärische Abschirmdienst“ (MAD) hervorging, leitete den BND bis zu seiner Pensionierung 1968. Für den Aufbau der „Organisation Gehlen“ heuerte er neben vielen ehemaligen FHOlern auch etliche frühere Experten des „Reichssicherheitshauptamtes“ (RSHA) an. Ein Referat des RSH, zu dem auch Brunner gehörte, leitete die Judenvernichtung.

Dafür, daß Brunner den deutschen Nachkriegsbehörden zeitweise besonders am Herzen lag, spricht, daß die deutsche Botschaft in Damaskus ihm den auf den Namen Fischer ausgestellten Paß mindestens einmal anstandslos verlängerte. Der echte Georg Fischer, der Brunner das Dokument als Mittel zur Flucht geschenkt hatte, hatte seinen Paß als gestohlen gemeldet.

Simon Wiesenthal berichtet, daß Brunner 1967 plante, zur medizinischer Behandlung von Syrien in die Schweiz zu reisen. Doch habe das Österreichische Rote Kreuz per Zeitungsanzeigen in Europa verurteilte NS-Verbrecher davor gewarnt, in diese Länder zu reisen. Unter den Gewarnten war auch Brunner, der auf seine Reise verzichtete. Wiesenthal recherchierte, daß die Warnung auf das Auswärtige Amt in Bonn zurückging. Die Rechtsschutzstelle des Außenministeriums hatte eine streng vertrauliche Liste an das Rote Kreuz weitergeleitet, auf der neben den Namen und Geburtsdaten der Kriegsverbrecher auch deren SS- Dienstgrade oder SD-Zugehörigkeit sowie das Datum der gerichtlichen Verurteilung vermerkt waren.

In ihrem kürzlich erschienenen Buch Die Rattenlinie — Fluchtwege der Nazis berichten Rena und Thomas Giefer, Hitlers Spezialagent für Sabotage und Geheimoperationen, der von den Amerikanern hofierte Otto Skorzeny, sei 1953 von Gehlen beauftragt worden, als Ausbilder den ägyptischen Geheimdienst aufzubauen. Dies gehe aus dem Bericht eines auf Skorzeny angesetzten FBI- Agenten aus dem Jahr 1951 hervor. Einer der Skorzeny-Mitarbeiter im Nahen Osten war demnach Alois Brunner.

Der Obersturmbannführer Skorzeny hatte sich unter Hitler 1943 durch die Befreiung Mussolinis aus dem Grand Sasso d'Italia einen Namen gemacht. Nach dem Krieg gehörte er zu den Drahtziehern der Fluchthilfeorganisation ODESSA (Organisation der ehemaligen SS- Angehörigen). Er, dessen Urne 1975 in Wien „alte Kameraden“ mit Hitlergruß beisetzten, hatte ab 1963 für den Mossad gearbeitet, wie die israelische Zeitschrift 'Matara‘ (Ziel) im September 1989 enthüllte.

Der FBI-Bericht über Skorzeny könnte eine Verbindung zu der von Lang genannten Firma OTRAG herstellen. Laut Bericht sollen Skorzeny und andere deutsche Wissenschaftler in Ägypten an einer gegen Israel gerichteten Mittelstreckenrakete gebastelt haben. Die in Garching bei München beheimatete OTRAG versuchte bis 1980 in Zaire und Libyen Billigraketen nach den Modellen der V1 und V2 der Nazis zu entwickeln. OTRAG-Chef Lutz Kayser hatte zu diesem Zweck die „fähigsten Köpfe“ aus der Nazi-Raketenschmiede in Peenemünde vepflichtet.

Aufsichtsratsvorsitzender der OTRAG war Kurt Debus, früher Leiter in Peenemünde. Als Konstruktionschef von OTRAG arbeitete der Hitler-Raketentechniker Richard F. Gomberts. Zudem saßen zahlreiche ehemalige SS-Offiziere in den Gremien der Gesellschaft, die auch Geschäftsverbindungen nach Saudi-Arabien, Ägypten und Syrien unterhalten haben soll.

Kritiker behaupteten, die Raketenschmiede OTRAG sei eigentlich eine Deckfirma für die wichtigsten bundesdeutschen Rüstungskonzerne. OTRAG-Chef Lutz Kayser pflegte gute Kontakte zur Hanns-Seidel-Stiftung. Sein Bruder und OTRAG-Mitbegründer Manfred war Geschäftsführer des Rüstungsriesen Dornier in Lindau. Aufsehen erregte im März 1978 das US-Sexblatt 'Penthouse‘. Der Ex-Korrespondent der 'New York Times‘, Tad Szulc, veröffentlichte dort einen Artikel, in dem er unter Bezugnahme auf Geheimdienstquellen berichtete, die OTRAG sei eigentlich „ein Unternehmen der deutschen Rüstungskonzerne Messerschmitt-Bölkow- Blohm“ (MBB) und kooperiere mit BND und CIA. Die OTRAG wurde Ende der achtziger Jahre liquidiert.

Würde Alois Brunner tatsächlich von Syrien ausgeliefert, könnte er vielleicht nicht nur vor Gericht Klarheit in so manche Angelegenheit bringen. Nicht zuletzt deshalb zweifelt Michel R. Lang daran, daß Syrien Brunner jemals ausweisen wird. Brunner wisse einfach zuviel, meint er, „nicht nur über die Geheimdienste, er weiß über die ganze Regierungsspitze Bescheid. Er ist einer der bestinformierten Männer in Syrien. Die können ihn einfach nicht rauslassen.“