Entscheidungen weiterhin am Parlament vorbei

■ Was die Euro-Macher in Sachen Demokratie ausgeheckt haben, stieß gestern bei Euro-Parlamentariern in Straßburg auf heftige Kritik

„Eine Farce“ sei das, was sich die Regierungs- und Staatschefs zum Thema „Demokratie in Europa“ ausgedacht hätten, wetterte der Spanier Enrique Barón Crespo schon zu Beginn des EG-Gipfels. Doch was bei den beiden Tagen in Maastricht herauskam, übertraf selbst die schlimmsten Erwartungen des Präsidenten des Straßburger Parlaments: Einer geringfügigen formalen Aufwertung des einzigen gewählten Gemeinschaftsorgans stehen eine gewaltige Höherbewertung von Kommission und Ministerrat gegenüber. Unter dem Strich kommt eine Schwächung des Parlamentes heraus.

In den Gängen des Parlamentsgebäudes schlugen gestern die Wogen der Empörung hoch. „Ätzend“, „Verrat an den Bürgern“ und „völlig undemokratisch“, waren nur einige Kommentare von Abgeordneten aus den verschiedensten politischen Lagern, als sie die 46 Seiten starke Zusammenfassung des Maastrichter Vertragstextes zur „Politischen Union“ in Händen hielten. Von dem Abbau des demokratischen Defizits und der Einführung von so etwas wie gemeinschaftlicher Sozialpolitik — beides zentrale und jahrelang gepflegte Forderungen der Euro-Parlamentarier — ist darin nichts mehr zu erkennen, sagte die deutsche Sozialdemokratin Dagmar Roth-Behrendt.

Wie Abgeordnete aller zwölf EG- Länder hatte sie erwartet, daß das Parlament nach jahrelangem Schattendasein zumindest zwei zusätzliche Rechte erhalten würde: die Mitentscheidung bei Gesetzen und das Recht, Gesetzesvorschläge einzubringen (Initiativrecht). Auf die Erfüllung eines besonderen Wunsches in eigener Sache hatten die 81 deutschen Abgeordneten gehofft: Sie wollten 18 zusätzliche Mandate für Abgeordnete aus den neuen Bundesländern.

An starken Fürsprechern hatte es den Parlamentariern dabei nicht gefehlt: Neben dem niederländischen Regierungschef Lubbers hatte sich Bundeskanzler Kohl persönlich die „Demokratisierung der EG“ für Maastricht vorgenommen. Doch Kohl war am Ende die Ecu offensichtlich wichtiger als die parlamentarische Kontrolle. Die Regierungschefs entschieden, daß das Euro-Parlament lediglich in bestimmten Fällen und nur über ein höchst kompliziertes Verfahren an der Gesetzgebung beteiligt werden soll. Im besten Fall darf das Parlament zweimal „nein“ zu einem Gesetz sagen. Wenn es dann immer noch keine Einigung gibt, darf der Ministerrat entscheiden, der mit Mitgliedern der nationalen Regierungen besetzt ist. Statt einer „dritten Lesung“ hat das Parlament dann nur noch die Wahl, auf seine Änderungsvorstellungen zu verzichten oder das Gesetz ganz abzulehnen. Ein solches Veto wäre „politischer Selbstmord“, kritisierte Barón Crespo. Die grüne Abgeordnete Birgit Cramon Daiber ergänzte, daß diese Verfahren nur eine negative Blockadepolitik ermöglichen.

Hinzu kommt, daß das großspurig „Kodezision“ genannte Verfahren längst nicht für alle Gesetze gelten soll. Es ist nur vorgesehen für die Bereiche Freizügigkeit und Niederlassungsrecht, für die Anerkennung von Diplomen und Berufsbildungen für Jugendpolitik, Verabschiedung mehrjähriger Forschungsprogramme, grenzübergreifende Infrastrukturmaßnahmen und in der Gesundheits- und Kulturpolitik sowie beim Verbraucherschutz. In der Praxis hätte das Europaparlament mit der „Kodezision“ nur einige wenige Male pro Jahr etwas zu sagen, denn der Binnenmarkt ist längst weitgehend geregelt, ebenso wie die Freizügigkeit. Forschungsprogramme gibt es nur alle paar Jahre, und Kultur- und Gesundheitspolitik werden zum großen Teil von den nationalen Regierungen selbst gemacht. Politisch richtungsweisende Entscheidungen kann die Brüsseler Exekutive künftig weiterhin am Parlament vorbei treffen.

Ob die Parlamentarier-Kritik in einer Ablehnung der Maastrichter Verträge mündet, ist offen. Zunächst einmal müssen sich die Abgeordneten durch 230 Seiten Vertragstext wühlen und die innenpolitische Situation mit den Kollegen daheim klären. Zu einer Entscheidung in Straßburg wird es vermutlich nicht vor Januar 1992 kommen. Ob sich dann eine Mehrheit traut, den „europäischen Fortschritt“ zu blockieren, ist höchst fraglich. Und selbst wenn das Europaparlament „nein“ zu dem Maastrichter Verträgen sagen sollte, wären sie damit noch nicht gefallen. Denn dazu fehlt ihm ja wieder die Kompetenz. Dorothea Hahn