Wirtschaftsmacht statt Volksmacht

■ 30 Stunden benötigten die Staats- und Regierungschefs, um einen "historischen Kompromiß" auszutüfteln. Statt auf Demokratie konzentrieren sie sich auf den Ausbau des Binnenmarkts zu einer...

Wirtschaftsmacht statt Volksmacht 30 Stunden benötigten die Staats- und Regierungschefs, um einen „historischen Kompromiß“ auszutüfteln. Statt auf Demokratie konzentrierten sie sich auf den Ausbau des Binnenmarkts zu einer wirtschaftlichen Großmacht. Das schwarze Schaf ist weiterhin die britische Regierung, die sich mit ihrer Strategie alle Türen offen gehalten hat.

Der Koloß kreißte — und gebar ein machiavellisches Meisterwerk: ein kompliziertes Geflecht von Ausnahmeregelungen, Rückversicherungklauseln und Blockiermechanismen, das in erster Linie der weiteren Ermächtigung der EG-Größen dient. 30 Stunden benötigten die Staats- und Regierungschefs, um diesen „historischen Kompromiß“ auszutüfteln, der nun Grundstein sein soll für die Vereinigten Staaten von Europa. Sichtlich erschlafft von dem Sitzungsmarathon schlurfte Francois Mitterrand Mittwoch frühmorgens ans Katheder, um der bereits wein- und bierseligen Journalistengemeinde seinen Sieg zu verkünden: „Alle Punkte, die Frankreich in den Verträgen verankern wollte, sind verankert worden.“

Dazu zählte er vor allem die britische Einwilligung in sein Lieblingsprojekt, die Westeuropäische Union (WEU) zum verteidigungspolitischen Arm der EG auszubauen. Einzige Beeinträchtigung: Die Stellung der Nato dürfe dadurch nicht gefährdet werden. Damit bleibt zwar noch offen, welche Bedeutung die verteidigungspolitische Zusammenarbeit der Gemeinschaft haben wird. Die Aufstellung einer schnellen Eingreiftruppe unter europäischem Kommando jedoch ist dadurch im Prinzip möglich geworden.

Besondere Genugtuung bereitete Mitterrand jedoch, daß sich sein Widersacher John Major in wichtigen Fragen wie Soziales und gemeinsame Währung vor die EG-Türe hatte komplementieren lassen. Dies hinderte den britischen Premierminister allerdings nicht, guten Gewissens zu versichern: „Wir haben nichts aufgegeben, wir haben nichts verloren.“ Aus Sicht seiner Unterstützter trifft dies auch zu: Schließlich hat sich die britische Regierung mit ihrer Strategie des „Opting-out“ alle Türen offen gehalten. Sie kann bei der europäischen Union mitmachen, sie muß es aber nicht.

Verlierer des gigantischen Geschacheres über den Konstruktionsplan für das „Europa des 21. Jahrhunderts“ wäre — gemessen an seinen wortstarken Versprechungen — Bundeskanzler Kohl. Im Austausch für die „Opferung der DM“ hatte er eine Beseitigung des Demokratiedefizits in der EG, eine Aufstockung der Zahl der deutschen Abgeordneten im Europäischen Parlament und Fortschritte in der Sozial- sowie Umweltpolitik gefordert. Obwohl in all diesen Bereichen keine oder nur geringe Verbesserungen erreicht wurden, behauptete Kohl jedoch, mit der Einigung seien die „Weichen für einen neuen Abschnitt des europäischen Einigungsprozesses“ gestellt. Pausbäckig prophezeite er: „Dieser Prozeß ist unumkehrbar.“

Keine guten Aussichten für das „Europa der Bürger“. Denn trotz der vielfach versprochenen „Bürgernähe“ der EG wird ihre Demokratisierung nur „stufenweise“ und „in Ansätzen“ stattfinden — in so essentiellen Bereichen wie Forschung, Gesundheit, Kultur und Verbraucherschutz. Über die Aufwertung der 18 „Beobachter“ aus den fünf neuen Bundesländern zu vollwertigen Europaabgeordneten soll frühestens im kommenden Jahr im Rahmen eines „Gesamtkonzepts“ entschieden werden. Dann will man auch eine Formel für die anderen Newcomer beispielsweise aus Schweden und Österreich finden.

Ungewiß ist, ob Großbritanniens Abschied von einer gemeinsamen EG-Sozialpolitik endlich zu dem vielfach versprochenen sozialen Europa führen wird. Eine „Elfergemeinschaft“ soll nun im EG-Ministerrat für Fortschritte vor allem bei der Harmonisierung der Arbeitsbedingungen, den Anhörungs- und Vertretungsrechten von Arbeitnehmern sowie der Gleichbehandlung von Mann und Frau sorgen. Dies kann zum Teil mit Einstimmigkeit, zum Teil mit Mehrheit geschehen.

Das Chaos wird noch zunehmen, fürchten viele Abgeordnete. Wie beispielsweise die Einflußnahme der Parlamentarier auf die Sozialpolitik aussehen wird, ist höchst unklar, muß doch zum Beispiel erst einmal geklärt werden, ob ihre britischen Kollegen in Zukunft mitstimmen dürfen. Ähnlich undurchsichtig wird das Abstimmungsverfahren im Ministerrat, wo der britische Sozialminister zwar gemäß der römischen Gründungsverträge mitstimmen darf, gemäß des neuen Zusatzprotokolls aber sich seiner Stimme enthalten müßte.

Auch die von Kohl geforderte gemeinschaftliche Innen-, Rechts- und Asylpolitik kam nur ansatzweise zustande. Die EG hat zwar eine gemeinsame Visumpolitik vereinbart, die Asyl- und Einwanderungspolitik wird aber weiterhin relativ unverbindlich zwischen den Regierungen abgestimmt. Diese soll verstärkt werden, was nach Kohl eine Chance sei, „sehr rasch zu praktischen Maßnahmen zu kommen“. Immerhin konnte der Kanzler die Forderung der Bundesländer und europäischen Regionen nach einem beratenden Regionalausschuß auf EG-Ebene durchsetzen. Die deutschen Bundesländer können künftig 24 Vertreter dorthin entsenden.

Neu geschaffen wird auch eine „europäische Staatsbürgerschaft“, die jedem EG-Bürger in jedem Mitgliedstaat erlaubt, bei Kommunalwahlen aktiv und passiv mitzumachen. Im Rahmen des vom spanischen Regierungschef geforderten Kohäsionsfonds für die ärmeren Mitgliedsländer soll es sogar mehr Gelder für Umweltprojekte geben. Felipe Gonzalez hatte bis zum Schluß gefordert, daß die Aufstockung der Gelder im Vertrag verankert werden müßte. Zum Schluß willigte er aber ein, diesen Punkt in einem Zusatzprotokoll zu behandeln. Über die Höhe sowie die Art und Weise des Finanztransfers soll nächstes Jahr verhandelt werden. Wohl deshalb war er nur „mäßig zufrieden“ mit dem Gipfelergebnis.

Bereits am Montag war vereinbart worden, daß die Union spätestens 1999 eine gemeinsame Währung erhält. Kohl sprach deswegen von „beachtlichen Erfolgen“. Den Briten wurde zugestanden, ihre Entscheidung später zu treffen. Der Startschuß kann schon 1997 fallen, wenn eine Mehrheit der EG-Staaten den strengen volkswirtschaftlichen Härtetest besteht. Über die Stabilität der neuen Währung ECU wird eine unabhängige EG-Notenbank wachen. Ihr Sitz ist noch ungewiß.

Die bisherige uneffektive Abstimmung in der Außenpolitik soll durch eine engere gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ersetzt werden. Damit sind die Mitgliedsstaaten „mit Abstand stärker eingebunden“ als bisher, behauptete Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher. Die in der Jugoslawien-Krise deutlich gewordenen Grenzen für das außenpolitische Handeln der Gemeinschaft sind damit jedoch nicht überwunden. Denn noch immer müssen die Zwölf in den zentralen Fragen Einstimmigkeit erreichen. EG- Kommissionspräsident Jacques Delors warnte deshalb bereits vor Maastricht, daß diese Form der Außenpolitik nicht funktionieren werde. Michael Bullard, Brüssel