"Die Umstrukturierung der Forschung ist nötig"

■ Der Molekularbiologe Jens Reich über die wissenschaftliche Neuorientierung in den östlichen Bundesländern/Die friedliche Revolution ist in den DDR-Akademien und den Ost-Universitäten...

taz: Heute beginnt in Potsdam eine Tagung des Bundes für Umwelt- und Naturschutz Deutschland BUND über die Forschungspolitik in den fünf neuen Bundesländern. Was hat sich seit der Vereinigung verändert?

Jens Reich: Die alte Forschungspolitik ist zusammengebrochen. Es läuft der Versuch, eine neue in Gang zu setzen.

Wer versucht es?

Das ist problematisch. Wir sind gerade in der Übergangsphase von einer zentralgeleiteten Forschung in eine von den Ländern aufzubauende Forschung. Die neuen Länder haben aber große finanzielle Probleme. Sie sind arm, und die wenigen Mittel fließen in soziale Projekte oder dienen der Rettung von Industriestandorten. Für langfristige Sachen, wie die Forschungspolitik, sind gegenwärtig keine Gelder da. Um diese Misere aufzufangen und die Forschung vernünftig überzuleiten, muß der Bund finanziell und organisatorisch in die Pflicht genommen werden.

Etwas hat die Bundesregierung schon getan. Sie ließ die Forschungseinrichtungen der DDR durch den Wissenschaftsrat evaluieren.

Die Evaluierungskommission hat sich alles angesehen und dann Empfehlungen gegeben, was aus den Instituten und Forschungseinrichtungen werden soll. Gegenwärtig ist jedoch nicht abzusehen, was im einzelnen passiert. Was vor vier Wochen noch positiv aussah, hat sich wieder zerschlagen. Es ist sehr schwierig, Investoren zu finden, die ein Projekt langfristig unterstützen. Was in jedem Fall nicht weiterläuft, ist die Forschung, die sich ein souveräner Staat selbst halten muß.

Was meinen Sie damit?

Die Zentralverwaltung für Statistik, den meteorologischen Dienst und anderes. Das sind Einrichtungen, die von der Regierung der DDR, meist rund um Berlin angesiedelt, betrieben wurden. Sie sind seit der Vereinigung überflüssig geworden, weil es solche Einrichtungen in der Bundesrepublik bereits gibt. Dabei hätte man doch auch darüber diskutieren können, ob nicht auch bundesrepublikanische Einrichtungen aufgelöst werden.

Viele Wissenschaftler der DDR haben die Evaluierung mit einem Aburteilen gleichgesetzt. Wie hätte man sonst mit der DDR-Forschung umgehen sollen?

Die Evaluierung hatte den Nachteil, daß sie erst nach der Vereinigung gekommen ist. Die Folge: West- Wissenschaftler beurteilen Ost-Wissenschaftler. Diesen Nachteil kann man auch nicht durch ein noch so kollegiales Verhalten ausgleichen. Die Evaluierer sind in einer schwierigen Situation gewesen. Sie sollten fachlich urteilen, wollten politische Prämissen, wie Chancenungleichheit, nicht so sehr in Betracht ziehen, und sie waren Außenstehende, die schlecht die Leistungsfähigkeit eines solchen Systems beurteilen können.

Wer hätte es dann machen sollen?

Das hätte mehr von innen als von außen gemacht werden müssen. Es ist ein Versäumnis der friedlichen Revolution, daß sie sich nicht hinreichend auf den Wissenschaftsbereich erstreckt hat. Es ist alles in den Anfängen hängengeblieben. Die Evaluierungskommission hätte mehr mit Wissenschaftlern aus den betroffenen Instituten besetzt sein müssen, um den Forschungsalltag transparenter zu machen. Außerdem mit Wissenschaftlern aus der DDR, die die Forschungslandschaft kennen und nicht in den Machtstrukturen verschlissen waren. Drittens hätten mehr deutschsprachige ausländische Wissenschaftler dabei sein müssen und natürlich auch bundesdeutsche. Die Evaluierer hatten eine schwere Aufgabe. Wenn sie die falsche Entscheidung getroffen haben, ist es ihnen nicht zum Vorwurf zu machen. Aber sie haben natürlich auch schon an die zukünftigen Konkurrenten gedacht. Wenn man fair evaluieren will, hätten auch gleichzeitig alle großen bundesdeutschen Projekte begutachtet werden müssen.

Welche Institute sind der Evaluierung zum Opfer gefallen?

In gewissem Sinne die drei Institute in Berlin-Buch — das Zentralinstitut für Herz-Kreislauf-Forschung und Molekularbiologie sowie das Krebsforschungsinstitut mit insgesamt 1.700 Mitarbeitern. Zum 31.Dezember werden alle Institute aufgelöst, weil die Finanzierung ausläuft. Gleichzeitig wird auf dem Bucher Campus ein Zentrum für molekulare Medizin gegründet, das vom Bund finanziert wird, aber deutlich kleiner ist. Vier- bis fünfhundert Mitarbeiter finden einen neuen Arbeitsplatz, der Rest ist am 1.Januar 1992 arbeitslos. Diese Mitarbeiter können nichts für den alten Zustand, außer, daß wir ihn alle viel zu lange ertragen haben. Das lag an der bürokratischen Verkrustung der zentralstaatlichen Strukturen. Die Umstrukturierung der DDR-Forschungslandschaft ist nötig. Das ist eine Folge der Vereinigung. Aber auch davor waren wir uns schon darüber klar, daß wir überbesetzt sind. Ich bezweifle, daß es einfacher gewesen wäre, wenn wir selbst umstrukturiert hätten. Zumindest wäre aber nicht der Eindruck entstanden, es sei von außen aufgeprägt. Jeder, der jetzt nicht drankommt, sagt, da haben die Wessis mich geschlachtet. Daran sind wir aber selbst mit Schuld. Wir haben viel zu langsam und viel zu zäh eigene Ideen entwickelt, obwohl ausreichend Zeit gewesen wäre. Statt dessen haben wir die Umstrukturierung der Forschung dem Wissenschaftsrat gutgläubig überlassen.

Wie soll nach Ihrer Meinung eine sozial orientierte Forschungspolitik aussehen?

Wenn die Vorgabe so ist, daß alles stromlinienförmig in das bundesdeutsche System eingepaßt werden soll, dann gibt es keine Alternativen. Dann ist es wie mit allen anderen DDR-Einrichtungen, die nicht einpaßbar sind. Die können nur aufgelöst werden.

Es gibt also tatsächlich keine andere Alternative?

Ende 1989/Anfang 1990 hatte ich die Vorstellung, Forschungsinstitute und -aufgaben anzusetzen, die weniger kostenintensiv sind als die westdeutsche Forschung, und die an den Traditionen und regionalen Besonderheiten anknüpfen. Außerdem hätten völlig neue Forschungsstrukturen ausprobiert werden können.

Was meinen Sie damit?

Ich könnte mir ein Modell aus vielen frei kooperierenden Gruppen vorstellen, in dem es basisdemokratisch zugeht. Dadurch ließe sich der technische Mittelbau stärker an den Inhalten der Forschung anbinden. Gerade diese Bereiche leiden unter Akzeptanzschwierigkeiten in der Bevölkerung, wie die experimentelle Naturwissenschaft, bedingt durch die Atomkraftdiskussion und die ethischen Probleme der Biomedizin.

Was ist von Ihren Vorstellungen geblieben?

Man könnte immer noch eine große Anzahl von kleinen Forschungsprojekten installieren. Dadurch könnten auch jene Leute eine Chance bekommen, die früher keine Entwicklungsmöglichkeiten hatten und immer noch genug Elan haben, mitzuziehen. Ich denke auch an Weiterbildungsmöglichkeiten im Ausland, die durch ein Stipendium finanziert werden. Die Deutsche Forschungsgesellschaft, das Bonner Forschungsministerium, der Deutsche Akademische Austauschdienst usw. sollten ein Rettungsprogramm für jene im Osten erstellen, die durch die Auflösung der Strukturen den Boden unter den Füßen verloren haben. Das wäre auf jeden Fall besser als Gelder in große Forschungsvorhaben zu stecken oder neue Institute zu gründen.

Bleibt nicht doch der Beigeschmack, die Neuordnung der Forschungslandschaft in den neuen Bundesländern sei ein Abwickeln?

Das war anfangs die Tendenz, die sehr von politischer Seite unterstützt wurde. Da war auch etwas von einer Zerschlagungsmentalität zu spüren. Ich habe den Eindruck, daß sich das geändert hat. Es ist wohl allen klargeworden, daß mit dem Neueinfliegen aus dem Westen und dem Entlassen aller Leute im Osten nichts zu machen ist.

Wo lagen die Stärken der DDR-Forschung?

Das kann ich nicht genau überblicken. Ich denke beispielsweise an das zentrale Krebsregister der DDR. Das hat davon profitiert, daß die Medizin in der DDR ziemlich hart an der staatlichen Kandare war. Diese Staatsnähe vieler medizinischer Unternehmungen wird gegenwärtig kritisch diskutiert. Der Vorteil für die Krebsforschung lag darin, daß Daten über den Verlauf der Krankheit landesweit gesammelt und ausgewertet wurden. Das fortzusetzen, wäre von der Sache her sehr wünschenswert. Aber es wird zusammenbrechen, weil erstens länderorientiert umgestellt werden müßte und zweitens nur noch für die Ostländer der Vorlauf da wäre. Außerdem gelten jetzt die Gesetze des Datenschutzes, die ein Weiterführen des Krebsregisters in Frage stellen. Das wurde in der DDR nicht so genau genommen. Ich finde es auch nicht richtig, daß Krankendaten öffentlich werden. Aber durch das Krebsregister ließen sich viele Aussagen machen, die sonst nirgendwo so kompakt vorliegen.

Welche medizinischen Projekte haben jetzt Schwierigkeiten aufgrund ihrer früheren Staatsnähe?

Die Nähe zum Staat bestand darin, daß viele Forschungsprojekte als Staatsplanthemen sehr hoch angebunden waren und vom Ministerium für Wissenschaft und Technik direkt koordiniert wurden. Die Akademie der Wissenschaften war quasi ein Ministerium und direkt dem Ministerrat unterstellt. Ihre Forschung spielte eine zentrale Rolle in der gesamten Forschungspolitik und bei der Förderung der Industrieforschung. Das aus der Sowjetunion stammende Modell der zentralen Wissenschaftsförderung ist in der DDR praktiziert worden. Daß heißt auch, viele Forschungsvorhaben sind nicht demokratisch gehandhabt worden, sondern mit dirigistischen Methoden. Dadurch ist eine Menge auf der Strecke geblieben. Es gibt die Vorwürfe, daß die Staatssicherheit in empfindliche medizinische Bereiche hineindirigiert hat. Beispielsweise an Universitäten war es für nichtetablierte Forschungseinrichtungen sehr schwierig, Unterstützung zu finden. Ein Forscher konnte, wenn er eine Idee hatte, nicht einfach an die Deutsche Forschungsgemeinschaft schreiben und um eine Förderung bitten. Viele Förderungsmaßnahmen liefen über das Zentralkommitee, Bereich Medizin. Leute, die gute Beziehungen hatten, haben das Geld weggeschnappt, die anderen gingen mager aus. Es bestand also eine erheblich politische Vetternwirtschaft.

Das ist nun anders. Jeder Wissenschaftler kann nun eine Förderung beantragen.

Das setzt aber einen Träger voraus. Er muß eine feste Stelle an einem Institut oder einer Universität haben, um solche Mittel zu beantragen. Also trifft es doch nicht für jeden Forscher zu. Gegenwärtig liegen der Deutschen Forschungsgesellschaft zwar viele Anträge vor, über die jedoch erst entschieden wird, wenn klar ist, was aus dem Institut oder der Universität wird. Das ist für viele gute Wissenschaftler und Forschungsgruppen gegenwärtig ein Handicap, weil sie mit ihren Vorhaben nicht loslegen können. Interview: Bärbel Petersen