Der Surrealist im Sadismus

Eine Biographie de Sades  ■ Von Manfred E.Nöbel

Der Münchener Verlag Schneekluth tritt gern mit seriös aufgemachter Erotik-Literatur hervor, hauptsächlich französischen Ursprungs in guten Übersetzungen; aber auch ein österreichischer Klassiker wie die Mutzenbacherin wird nicht verschmäht, wenn diese mit essayistisch kommentierenden Feigenblättern versehen ist. Schließlich findet Sex auch im Kopfe statt.

Ein Intellektueller, der etwas auf sich hält, tut's nicht unter Donatien Alphonse Francois de Sade. Man zeigt Bildung, ganz besonders wenn das Buch gebildet geschrieben ist, von einem Professor für zeitgenössische französische Literatur an der Universität Aix-en-Provence. Der Autor Raymond Jean schrieb Biographien, Theaterstücke, essayistische Werke sowie ein reichliches Dutzend Romane. Die Vorleserin wurde von Michel Deville verfilmt. Jean erhielt den „Prix Goncourt pour la Nouvelle“. Und wenn man sein jetzt vorliegendes Porträt des Marquis de Sade liest, erhielt er ihn zu Recht.

Es ist die romanhafte Montage einer verworrenen Lebensgeschichte mit dem Vorsatz, alle Mythen um den Marquis ad absurdum zu führen oder zumindest die ihnen zugrunde liegenden Vorgänge richtigzustellen. Nach Jean war es de Sades größtes Mißgeschick, „daß sein Name das Wort ,Sadismus‘ hervorgebracht hat“. Es tauchte zuerst 1834 auf, also in allerschönster romantischer Kaspar-Hauser-Zeit. Statt dessen betont der Verfasser, Sade habe zu Lebzeiten dem Wort „Neigungen“ stets „große Bedeutung“ beigemessen.

Seit nunmehr 200 Jahren wird der Marquis de Sade (1740-1814), werden seine Werke verteufelt und verherrlicht — sei es seine Justine oder die Hundertzwanzig Tage von Sodom. Für die einen ist er der „göttliche Marquis“ und radikaler Sittenkritiker, für die anderen ein dekadenter Aristokrat und gefährlicher Pornograph, der auf den Index gehört. So schwankt, um einen geistesverwandten Zeitgenossen aus Deutschland zu zitieren, „sein Charakterbild in der Geschichte“.

Raymond Jeans Porträt beleuchtet Widersprüche und Brüche im Leben dieses Mannes, der zuerst unter dem Ancien Regime, später während der Revolution und schließlich unter Napoleon die Hälfte seines Lebens hinter den Mauern von Gefängnissen und Irrenhaus verbracht hat. Opfer seines Lebens- und Gesellschaftsverständnisses? Opfer einer Gesellschaft, die ihn nicht verstand? Oder die er nicht verstand? Auch bei Raymond Jean, der es ansonsten in allem genauß weiß, bleibt ein unaufgelöster Rest — Raum genug für sexualpathologische Deutungen oder den herbeigesehnten Rückenschauer bei der Lektüre.

Der Autor zeigt einen „düsteren, besessenen“ de Sade, der getrieben wurde von dem Zwang, die Tabus seiner Zeit systematisch und öffentlich zu brechen. Klug ausgewählte Sade-Zitate verdeutlichen dies. Und er zeigt den engagierten Revolutionär, Libertiner und Aufklärer, der sich voller Abscheu über alltägliche Grausamkeiten äußert, die im Namen der Religion, der Menschlichkeit und des Staates begangen werden. „Das Paradoxe an Sade ist, daß er einen Großteil seines Werkes darauf verwandte, die ,Wonnen der Grausamkeit‘ auszumalen und das Verbrechen zu rechtfertigen, und sich gleichzeitig als entschiedener Gegner der historischen Gewalt auswies. Und dies nicht nur zum Zeitpunkt seiner Revolutionserfahrungen.“

Raymond Jean nimmt natürlich kein Blatt vor den Mund, wenn es darum geht, die „Excesse“ in Leben und Werk des Marquis nachzuzeichnen. Er stellt de Sades „Vergehen“ in den Kontext von Zeit und Gesellschaft, und er hebt dessen „Ausschweifungen“ auf die Höhe sprachlicher Ereignisse. Er zitiert Breton: „Sade ist Surrealist im Sadismus.“

Ein bibliographischer Anhang rundet den in vielem beunruhigenden Lebensbericht über einen übersteigerten, außergewöhnlichen Menschen ab, der geschrieben wurde, „nur um daran zu erinnern, daß de Sade ein Mensch war. Weder ein Ungeheuer noch ein Verrückter, und ebensowenig ein Unberührbarer oder Heiliger. Vor allem weder Phantom noch Statue. Sondern ein tief in seiner Epoche verwurzelter Mensch, selbst wenn er diese in seiner Maßlosigkeit auf erstaunliche Weise überstieg.“ — So der Schluß des von Nicolaus Bornhorn vorzüglich übersetzten Buches.

Raymond Jean: Ein Porträt des Marquis de Sade. Aus d. Franz. von Nicolaus Bornhorn. Schneekluth Verlag, 445 Seiten gebunden,

46 DM.