Nunca más

■ Der Untersuchungsbericht über verschwundene Personen in Argentinien erreicht die 16.Auflage

In argentinischen Tageszeitungen erscheinen regelmäßig kleine Anzeigen, die neben einem Namen ein Datum mitteilen, wie zum Beispiel: Miguel Kaledjian 1.9.1976 — und darunter Sätze wie: „Die dich lieben, vergessen nicht, entschuldigen nicht, begnadigen nicht.“ Das Datum ist, genau genommen (denn in diesen Fällen ist Genauigkeit geboten), kein Sterbetag, sondern bezeichnet den Tag des Verschwindens einer Person, über deren weiteren Verbleib diejenigen, die Bescheid wissen mußten, jede Nachricht verweigerten und verweigern.

Mindestens 9.000 Menschen sind in den Jahren der argentinischen Militärdiktatur verschwunden. Das ist die Zahl, die von der 1983 gebildeten Nationalen Kommission über das Verschwinden von Personen festgestellt wurde (sie betrifft die Desaparecidos im engeren Sinn und nicht die Gesamtzahl der Opfer, die man im allgemeinen auf etwa 30.000 schätzt). 1984 veröffentlichte die Kommission, deren Präsident der Schriftsteller und Philosoph Ernesto Sábato ist, zum ersten Mal ihren Bericht, der den einprägsamen Titel Nunca más (Nie wieder) trägt. Das in Buchform gebrachte Ergebnis der Arbeit der Kommission ist eines der Dokumente, die durch Genauigkeit und subjektive Zurückhaltung berühren und gleichsam ästhetischen Rang erreichen. Darüber hinaus arbeitete die Gruppe von Anfang an mit Menschenrechtsorganisationen und Persönlichkeiten aus verschiedenen kulturellen Bereichen zusammen, so daß Nunca más zum Inbegriff für den Willen der argentinischen Gesellschaft wurde, die jüngste Vergangenheit zu erinnern und zu verarbeiten.

Die besondere Wachsamkeit der Intellektuellen in diesem Zusammenhang entspricht dem Maß der Gefährdung, der sie in einem undemokratischen System ausgesetzt sind. Ernesto Sábato machte diese Erfahrung bereits 1960, als er — zur Zeit des Eichmann-Prozesses — üblen Verleumdungen ausgesetzt war. Weil es in Europa wenig bekannt ist, soll darauf hingewiesen werden, daß unter den Desaparecidos auch zwei bedeutende argentinische Schriftsteller sind. Rodolfo Walsh und Haroldo Conti.

Das Buch, der Bericht der Untersuchungskommission, erlebte bis 1987 15 Auflagen. Es ist kein Zufall, daß jetzt, nach vier Jahren, die 16.Auflage erfolgt. Die Teilnehmer der Veranstaltung, die Anfang September die Auflage begleitete, ließen keinen Zweifel daran, daß sie den begonnenen Prozeß der Vergangenheitsbewältigung in Gefahr sehen. Der letzte, wenn auch klägliche Putschversuch einer Gruppe von Militärs ist nicht lange her, die Einschüchterungsakte und Gewalttätigkeiten häufen sich. Der Filmregisseur Pino Solanas, der einen Unterstützerbrief für die „Nunca más“- Veranstaltung schickte, war im Mai durch sechs Schüsse in die Beine verletzt worden; die Veranstaltung selbst fand — im größten Kulturzentrum von Buenos Aires — unter Bombendrohungen statt.

Diesen Anzeichen liegt ein doppelter Prozeß zugrunde, der die Vergangenheitsbewältigung zutiefst in Frage stellt. Die eine Seite dieses Prozesses erinnert, folgt man der Darstellung des jüngsten Memorials von „Nunca más“, an die Unterlassungen in Nachkriegsdeutschland und -österreich: Die Kontinuität im Justizapparat führt dazu, daß eine Reihe von Verbrechen im dunkeln oder ungeahndet bleiben. Erlässe über die Verjährung von Menschenrechtsverbrechen und Weisungen zur Einstellung von Gerichtsverfahren folgten. Mit der Begnadigung der Hauptverantwortlichen des Staatsterrors, die Ende 1990 durch den argentinischen Staatspräsidenten erfolgte, sollte überhaupt ein Schlußstrich gezogen werden.

Die andere Seite dieses Prozesses unterstrich Adolfo Pérez Esquivel, Friedensnobelpreisträger zu einem Zeitpunkt, als er in einem der Kerker der Militärdiktatur saß. Die Menschenrechte betreffen nicht nur das Leben und die Integrität der Person, sondern auch Arbeit, Gesundheit, Bildung. In Argentinien werden nunmehr seit Jahren die Erblasten der Militärdiktatur weitergeschleppt, werden Gesundheits- und Bildungswesen zerschlagen, wachsen die Elendsvirtel, wächst die Zahl der Kinder ohne Eltern, ohne Dach über dem Kopf. In der Politik, so Pérez Esquivel, hat sich eine Verlogenheit breitgemacht, die diese Verhältnisse verschleiern will. So wächst die Gefahr einer Rückkehr des Terrors. „Nur soziale Gerechtigkeit vermag das Nunca más zu garantieren“, heißt es im erwähnten Memorial.

Leopold Federmair