Vom Frieden noch weit entfernt

Kambodscha nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages  ■ Aus Pnom Penh HANS VRIENS

Das alte buddhistische Kloster am Samouth Boulevard im Zentrum der Hauptstadt sieht verlassen aus, die Mönche in ihren orangefarbenen Sutanen — sie sind fort. Die in der Mitte des Innenhofs emporragende Pagode ist derart heruntergekommen, daß sie jederzeit einstürzen könnte. Hinter der Pagode, auf der Balustrade eines der dortigen Gebäude, hocken vier etwa 17jährige Mädchen; erst als ich mich ihnen nähere, stelle ich fest, daß jedes von ihnen unter seinem langen Gewand eine Beinprothese trägt. Gerade tritt Doktor Kou Roeun aus der Tür der steinernen Baracke. „Herzlich willkommen im Nationalen Zentrum für die Rehabilitation von Arbeitskräften“, sagt dieser kambodschanische Arzt, der als einziger von den ohnehin nur 40 Medizinern im ganzen Land den Völkermord der Roten Khmer in den Jahren zwischen 1975 und '78 überlebt hat.

Aber wo sind die Mönche? „Die werden Sie in Pnom Penh vergeblich suchen“, erklärt Kou Roeun. „Pol Pot hat sie alle umbringen lassen. Er hatte damals nur keine Zeit mehr, auch die Pagode und das dazugehörende Kloster zu zerstören.“ Damals — das war am 7. Januar 1979, als die Roten Khmer panikartig das Weite suchten, auf der Flucht vor den Panzern der vietnamesischen Armee, die dann zehn Jahre bleiben sollte.

Eines der Mädchen ist die Oberschülerin Ton Sok Heng. Vor zwei Jahren trat sie auf ihrem vertrauten Schulweg durch die Reisfelder, nur wenige hundert Meter von ihrem Dorf entfernt, auf eine Mine. Seit einem Monat ist sie im „Zentrum“, wo sie sich an die Prothese gewöhnt und eine Ausbildung als Näherin bekommt. „In den ersten Tagen hat mir das Gehen noch sehr viel Schmerzen bereitet“, sagt Ton Sok Heng. Heute ist kaum noch zu sehen, daß sie eine Prothese trägt. Nur ihr Schritt wirkt etwas ungleichmäßig.

Die 65 Behinderten, die jeden Monat in dieser primitiven Klinik ein Kunstbein und eine kurze Berufsausbildung verpaßt bekommen, gehören zu den priviligierten Verwundeten in diesem zerstörten Land. Denn im Vergleich zu ihnen erleiden die schwer verwundeten Soldaten der Regierungsarmee im ehemaligen Regionalkrankenhaus von Kien Kleing ein weitaus schwereres Schicksal. Schon von weitem hört man das Flötenspiel von fünf ehemaligen Soldaten, deren Augenlicht von Granatsplittern für immer ausgelöscht worden ist. Zwei von ihnen haben infolge der mißglückten Montage einer Landmine auch noch beide Hände verloren. Jeden Nachmittag bekommen sie Flötenunterricht — um später erfolgreicher betteln zu können. Aber vorerst wird daraus nichts: Schon seit vier Jahren warten sie auf Prothesen oder Rollstühle, um die nur anderthalb Kilometer von Kien Kleing zum Zentrum von Pnom Penh aus eigener Kraft zurücklegen zu können.

Die Regierung von Premier Hun Sen hat kein Geld, um Prothesen- Fertigungsstätten und Reha-Zentren für Kriegsverletzte zu bauen; Kambodscha ist pleite. Die Sowjetunion, durch den eigenen wirtschaftlichen Zusammenbruch geschwächt, hat ihre Subventionen in Gestalt von Brennstoff- und Kunstdüngerlieferungen gestoppt. Und die westlichen Regierungen hielten sich bis vor einigen Wochen an ein Handelsembargo, das in Kraft getreten war, als die Roten Khmer 1975 das von den USA gestützte Regime von General Lon Nol aus Pnom Penh vertrieben.

Der Krieg geht weiter

Die von Reisfeldern, Äckern und dem breiten Mekong-Fluß eingeschlossenen Baracken von Kien Kleing stehen unmittelbar gegenüber dem königlichen Khemarin-Palast am anderen Ufer, wo seit einigen Wochen, nach 13 Jahren Exil, Prinz Sihanouk wieder residiert. Während der Palast, der gerade mit Hilfe einer von der französischen Regierung geleisteten Spende von über 300.000 Mark restauriert wurde, an allen Seiten in üppiger Festbeleuchtung erstrahlt, verfügt Kien Kleing nicht mal mehr über genügend Dieselöl, um den Generator zu starten. Auch fließendes Wasser ist diesseits des Mekong ein Fremdwort.

Dave Adams, ein Vietnam-Veteran, der aus den USA nach Kien Kleing kam — unter seinen Shorts lugen zwei Prothesen hervor —, explodiert förmlich vor Wut, wenn er über die menschenunwürdigen Verhältnisse spricht, unter denen die 70 kambodschanischen Kriegsinvaliden und ihre 190 Familienangehörigen hier überleben müssen: „500 Riel (etwa 85 Pennig) gewährt die Regierung pro Monat jeder Familie hier. Wie die damit hinkommen, ist mir ein Rätsel.“ Drei Mitglieder von der Stiftung US-amerikanischer Vietnam-Veteranen bauen zur Zeit in Kien Kleing eine kleine Fabrik für die Herstellung von Prothesen und Rollstühlen. Die Rollstühle sind für jene Soldaten, deren Bein oberhalb des Knies amputiert worden ist; bis jetzt behelfen sie sich mit improvisierten Gestellen, die sie eigenhändig aus Brennholz gefertigt haben.

Mit der feierlichen Unterzeichnung des Friedensvertrages am 23.Oktober ist der kambodschanische Bürgerkrieg, der 21 Jahre dauerte, offiziell zu Ende gegangen. Prinz Norodom Sihanouk, der wie ein Gott verehrte Vater des Landes, ist als Symbol der nationalen Einheit zurückgekehrt — im übrigen exakt 50 Jahre, nachdem ihn die französischen Kolonialherrscher 1941 zum ersten Mal auf den Thron gehievt hatten. „Aber inzwischen gehen die Kämpfe unvermindert weiter, als ob nichts geschehen wäre“, sagt Maurits van der Pelt, Koordinator des niederländisch-belgischen Programms der „Ärzte ohne Grenzen“ in Kambodscha. „Die Zahl der Verletzten, die in unsere Kliniken nahe der Front gebracht werden, hat seit der Unterzeichnung des Abkommens von Paris eher zu- als abgenommen.“ Vor allem in der Region zwischen den Städten Siem Reap und Kompong Thom (etwa 150 Kilometer nordwestlich von Pnom Penh) werde verbittert weitergekämpft. „Hier haben die Khmer den Ort Stung mit seinen 15.000 Einwohnern erobert“, erklärt van der Pelt, während er auf einer Landkarte Kambodschas mit einem Filzstift jene Gebiete nachkoloriert, in die die rund 35.000 Guerilla-Kämpfer der Roten Khmer infiltriert sind.

Aber auch dort, wo im Augenblick nicht gekämpft wird, gibt es Kriegsopfer: durch die schätzungsweise drei Millionen scharfen Minen, die überall auf dem Lande versteckt liegen. Und in den Reisfeldern treibt eine besonders tückische Type aus Plastik, knapp unter der Wasseroberfläche. Pro Monat verlieren zwischen fünf- und sechshundert Kambodschaner — mehrheitlich Zivilisten — ein oder beide Beine, so heißt es in einem Bericht der US-Organisation Asia Watch. 35.000 Amputierte zählt das Land — auf einer Gesamtbevölkerung von acht Millionen die höchste Behindertenrate der Welt.

Mitten im Zentrum Pnom Penhs steht die ehemalige Folterzentrale der Roten Khmer, Tuol Sleng. Heute ist das frühere französische Gymnasium inmitten eines Gartens wogender Palmen ein Museum. Die vietnamesischen Soldaten, die am 7.Januar 1979 das Terrorregime Pol Pots — dem über drei Millionen Menschen auf brutalste Weise zum Opfer gefallen waren — beendeten, trafen hier auf ganze sieben Gefangene, die der Mordmaschinerie Pol Pots entkommen waren. Überlebensgroße Fotografien belegen, auf welch bestialische Art die Khmer noch kurz vor ihrem Abzug die letzten lebenden Gefangenen ermordete: Unter den Bildern eines Mannes, dessen Gesicht bis zur Unkenntlichkeit entstellt worden ist, sind als stille Mahnmale kurze Eisenstangen und Schaufeln plaziert.

Fassungslos, daß die Mörder wieder da sind

Nur fünf Minuten von Tuol Sleng entfernt liegt die Villa, die seit Ende November der „Verteidigungsminister“ der Roten Khmer, Son Sen, bezogen hat. Vor dem hohen Zaun stehen gut zwei Dutzend Kambodschaner und schauen fassungslos durch die Stäbe; sie können es kaum glauben, daß die Mörder wieder unter ihnen sind. Die staatlichen Medien haben verschwiegen, daß nach dem Friedensabkommen auch die Roten Khmer zwei Sitze in der Übergangsregierung, dem Nationalen Rat, bekommen. Bei der Rückkehr von Khieu Samphan fast zur selben Zeit wählte die Regierung Hun Sen eine andere Strategie: Der 60jährige Ex- Präsident, der den Roten Khmer wieder Ansehen verschaffen soll, wurde bei seiner Ankunft auf dem Flughafen von Pnom Penh von Hunderten Demonstranten erwartet. Die „Begrüßung“ geriet außer Kontrolle, als Tausende mit Stöcken bewaffneter Demonstranten die Villa stürmten, wo sich zu dem Zeitpunkt Son Sen, Khieu Samphan und etwa 20 Leibwächter befanden. Regierungssoldaten konnten Khieu Samphan, der eine tiefe Kopfwunde davontrug, und Son Sen schließlich befreien, aber die beiden Führer mußten im gepanzerten Fahrzeug zum Flughafen gebracht werden, von wo sie zurück nach Bangkok reisten.Alle vier Bürgerkriegsparteien werden sich an der Einheitsregierung beteiligen. Es sind die jetzige Regierung von Ministerpresident Hun Sen — die 90 Prozent des kambodschanischen Territoriums kontrolliert —, und die Guerillatruppen der Roten Khmer sowie der eher marginalen KPNLF von Ex- Premier Son Sann. Als unparteiischer Vorsitzender fungiert Prinz Sihanouk — so sieht es das Abkommen vor, das die Parteien im vergangenen Juni im thailändischen Badeort Pattaya geschlossen haben. Seither aber hat der 70jährige Sihanouk die Seiten gewechselt: ausgerechnet ins Lager von Hun Sen, dem „Vasallen von Hanoi“ — dem Mann, den er als Chef der Widerstandskoalition neun Jahre lang bekämpft hat.

„Hun Sen ist von heute an wie ein Sohn für mich. Die Parteien meiner beiden Söhne Prinz Norodom Rinariddh und Hun Sen werden mit Blick auf die kommenden Wahlen 1993 eine Allianz bilden. Und wir werden diese Wahlen gewinnen“, versichert ein äußerst bewegter Sihanouk während der ersten Pressekonferenz seit 21 Jahren in der Empfangshalle seines Palastes. „Wenn die fünf ständigen Mitglieder des UNO-Sicherheitsrats das Friedensabkommen verändern wollen, um auf diese Weise die Führer der Roten Khmer vor Gericht zu stellen, werde ich mich nicht dagegen wehren“, sagt Sihanouk mit gekonntem Understatement. „Schließlich bin ich neutral. Aber die Abgeordneten des US- Kongresses, die Pol Pot so gern bestraft sehen, müssen sich im Klaren darüber sein, daß er vom thailändischen Militär beschützt wird.“

Alle wollen in Kambodscha helfen

Der Friede in Kambodscha wird ein gänzlich anderes Gesicht bekommen, als in Paris vereinbart wurde; Sihanouk und Hun Sen haben die Roten Khmer ins politische Abseits manövriert. Wenn es nach ihnen geht, bleibt die Übergangsregierung ein Marionettenkabinett. Schon vor der ersten Sitzung des Hohen Nationalen Rats hat Sihanouk bekanntgegeben, daß er im Dezember Vietnam und Laos zu besuchen gedenke. Er hat sich von Hun Sen zum Präsidenten Kambodschas ernennen lassen; Sihanouk seinerseits verschafft damit dem Regime Hun Sen die internationale Anerkennung, die es zwölf lange Jahre entbehren mußte. Neue Botschaften werden bereits im Eiltempo eröffnet, NGOs (nicht-regierungsgebundene Hilfsorganisationen) geben sich in Pnom Penh die Klinke in die Hand, um Kambodscha wieder auf die Beine zu helfen. Nahezu die Hälfte aller PKW, die die Boulevards der Hauptstadt rauf- und runterfahren, besteht seit kurzem aus Toyata-Geländewagen mit Aufklebern wie „Worldconcern“, „Worldvision“ und „Save The Children“. Ein Entwicklungshelfer aus den Niederlanden, für eine Woche in Pnom Penh, um Gelder zu verteilen, drückt die Situation so aus: „Wir werden hier unser Geld nicht los, es gibt einfach nicht genügend sinnvolle Projekte. Für die Durchführung von Projekten braucht man einheimische, vor Ort geschulte Fachkräfte. Und die gibt es fast überhaupt nicht.“

Die Armut ist die größte Gefahr

In seinem Café unweit des einzigen internationalen Hotels in Pnom Penh, des „Cambodiana“, erklärt mir ein ranghoher kambodschanischer Beamter abwechselnd in fließendem Französisch oder Englisch, warum der wirkliche Friede noch in weiter Ferne ist: „Wer sich die jüngsten Reden Pol Pots vor Augen führt, weiß, daß die Roten Khmer warten, bis sie bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit die Macht erneut an sich reißen können — sei es auf politischem, sei es auf militärischem Wege. Die größte Gefahr ist von daher die Armut auf dem Lande, wo die Roten Khmer immer noch Unterstützung genießt.“

Tatsächlich hat sich das plötzliche Wirtschaftswachstum, das sich in den Städten einstellte, nachdem der gewendete Marxist Hun Sen eine ungebremste Marktwirtschaft verordnet hatte, auf dem Lande bisher kaum bemerkbar gemacht; in Pnom Penh dagegen steht man täglich im Stau zwischen Tausenden von Honda- Motorrädern. Auch unser Beamter kann sich einen über die thailändische Grenze geschmuggelten Toyota leisten — dank seiner Einnahmen aus dem Café, in dem gerade an die 50 Kambodschaner vor dem Bildschirm sitzen und sich ein synchronisiertes „Kung-Fu“-Video ansehen. Denn von seinem Beamten-Gehalt von 15 Mark monatlich könnte er sich nicht mal ein Fahrrad kaufen.

Eine unmögliche Aufgabe für die Blauhelme

Inzwischen kommen auch immer mehr UNO-Mitarbeiter und Blauhelme nach Pnom Penh. Mit einem veranschlagten Haushalt von etwa vier Milliarden Mark bereitet sich die UNO in Kambodscha auf die ambitionierteste Aufgabe vor, die sie je übernommen hat: Das Friedensabkommen hat die 70-prozentige Demilitarisierung aller vier Armeen vorgesehen. Und die 10.000 Blauhelme sollen diesen Prozeß kontrollieren. Eine unmögliche Aufgabe, denn wie sollen die fremden Soldaten einen Khmer-Bauern von einem Khmer-Kämpfer unterscheiden? Darüber hinaus werden Tausende von UNO-Mitarbeitern nach Kambodscha delegiert, um die Amtsgeschäfte von sechs Ministerien zu führen und die ersten freien Parlaments- und Präsidentschaftswahlen zu organisieren. Und dann steht da noch die Rückführung der rund 350.000 Flüchtlinge an, die seit zehn Jahren in den von den Roten Khmer kontrollierten Lagern jenseits der kambodschanisch-thailändischen Grenze ausharren. 80 Prozent von ihnen haben Mitarbeitern des Hohen Flüchtlingskommissars (UNHCR) in geheimer Umfrage anvertraut, daß sie im Falle ihrer Rückführung so weit wie möglich von den Gebieten, die die Roten Khmer kontrollieren, angesiedelt werden möchten — untrügliches Indiz dafür, wie die ersten freien Wahlen Anfang 1993 ausgehen werden.