Albanien wird von Hungerrevolten erschüttert

In zwei Städten schoß die Polizei in plündernde Menschenmengen/ Ein Kaufhaus wurde niedergebrannt, mindestens 33 Menschen wurden getötet/ Die Regierung hat der Bevölkerung außer Repression nichts anzubieten  ■ Aus Budapest Roland Hofwiler

Seit sechs Monaten hängt ein Schild vor dem Portal: „Wegen Renovierungsarbeiten geschlossen.“ Doch der Gag ist verflogen. Aus der ehemaligen KP-Gedenkstätte, dem geschlossenen Enver-Hoxha-Museum, hätte schon längst ein moderner Tanzschuppen werden sollen. Aber noch immer ist davon kaum etwas zu sehen. Albanien — ein Jahr nach der Wende. Selbst kosmetische Reformen sind nicht in Sicht.

Statt dessen herrscht die nackte Angst vor dem bevorstehenden Winter. Ohne Umschweife: Die Menschen hungern. Selbst wer die Hunger- und Kältewinter unter dem Tyrannen Ceausescu in Rumänien erleben mußte, kann sich kein Bild davon machen, wie dramatisch die Lage heute in Albanien ist. In manchen abgelegenen Orten hat man einfach keine Chance, auch nur an Brot heranzukommen. Der Erwerb von Milchprodukten ist ein Traum, die Hoffnung auf Geflügelfleisch und Frischgemüse eine Fata Morgana. Schon die Sprache der Statistik gibt zu denken: Die heimische Nahrungsmittelproduktion deckte in diesem Jahr nur zehn Prozent des Lebensmittelbedarfes, 90 Prozent aller Grundnahrungsmittel mußten eingeführt werden.

Reis, Mehl und Zucker gelten als Luxusprodukte, für deren Kilogrammpreis der Albaner verglichen mit seinem Durchschnittslohn so tief in die Tasche zu greifen hat wie ein Westeuropäer für den Erwerb eines Walkman. 500 Lek Monatseinkommen decken gerade zwei, drei Kilogramm Hammelfleisch. Doch nichts von diesen Produkten ist frei im Laden erhältlich. Jeder Familie werden Marken zugewiesen, Lebensmittelcoupons ohne Wert.

Steht nur Familien mit Kleinkindern unter zwei Jahren täglich ein Liter Milch zu, garantiert dieses Dekret noch lange nicht, daß man auch tatsächlich das Allernotwendigste für seine Kleinsten erstehen kann. Durch Korruption und dunkle Machenschaften fehlt es selbst an einfacher Kuhmilch.

Bei einem Rundgang durch die Hauptstadt Tirana merkt man schnell, daß die Brotstände nur noch im Zentrum zu finden sind. Bezeichnenderweise unweit des Schwarzmarktes. Einem Markt, der so erbärmlich wirkt, daß man von Glück reden muß, dort für teures Geld Kartoffeln und Äpfel aufzutreiben. Doch schon wenige Kilometer außerhalb der albanischen Metropole beginnt der Hunger. In Lac, nur sechzig Kilometer nördlich von Tirana, ist einfach nichts zu kaufen. Weder Brot noch Milch. Nur einmal in der Woche könne man mit einer Lebensmittellieferung rechnen, erzählen die Menschen. Und man wisse nie, ob auch diese eines Tages einfach versiege. Darum griff man am 6. Dezember zur Selbsthilfe. Ein Lastwagenkonvoi, der in Richtung Hauptstadt unterwegs war, wurde überfallen und ausgeraubt. Die traurige Bilanz: Örtliche Polizisten, die beim Überfall zu kurz kamen, erschossen kurzerhand zwei Plünderer. Zu einem richtigen Massaker an einer „plündernden Meute“ (Radio Tirana) soll es am Montag in Fuse Arres 80 Kilometer nördlich von Tirana gekommen sein. 33 Personen wurden angeblich von der Polizei erschossen, als sie Geschäfte und Kaufhäuser plünderten. Augenzeugen zufolge waren an den Plünderungen bis zu 10.000 Menschen beteiligt, die nach einem Stromausfall in der gesamten Stadt in den Kaufhäusern Feuer gelegt hatten, um die Waren erkennen zu können. Das Kaufhaus brannte völlig aus, unter den Trümmern werden noch weitere Opfer vermutet.

Sowohl die „Sozialisten“ wie die „Demokraten“ reagierten in Tirana mit Empörung. „Hooligans“ und „subversive Elemente“ hätten in Lac und in Fuse Arres „Verwüstungen“ und „Anarchie“ angerichtet. Ausgebrannte Lastwagen, ausgeraubte und verwüstete Läden, schwerbewaffnete Polizisten, die Lebensmittellager bewachten, sind die Bilder, die zu den Hungerrevolten über das staatliche Fernsehen flimmerten. Staatspräsident Ramiz Alia gab sich zu einer Fernsehansprache an die Nation herab. Sein Tenor: In dieser schweren Stunde dürfe Albanien nicht im Chaos versinken. Eine nichtssagende Warnung, die man allzugut kennt. Schon vor Jahren hatte der damalige Enver-Hoxha- und Stalin-Verehrer Alia vor „Unruhen“ gewarnt. Damals konnte er die Menschen wenigstens noch mit Lebensmitteln abspeisen, während er jetzt nur noch Repressionsmaßnahmen anbietet. Dazu kommt, daß seitdem Italien und Griechenland die Massenflucht verzweifelter Albaner rigoros unterbunden haben, im Lande die Abrechnung zwischen Nutznießern und Opfern des alten Regimes auch blutig ausgetragen wird. Glaubt man den sensationalistisch aufgewärmten Presseberichten der Zeitungen, so bekämpfen sich allein in der Hauptstadt ein dutzend Banden, liefern sich Teenager mit Kampfeinheiten der entmachteten Geheimpolizei Straßenschlachten und mischt eine neuentstandene Mafia zwischen den Fronten kräftig mit. Nicht selten ist der Anlaß für einen Bandenkrieg schlichtweg der Neid auf jeglichen Besitz. Sogenannte „Gassenkinder“ bedrohen kleine Geschäftsleute allein schon deswegen, weil sie im Besitz von seltenen Waren sind. Selbst einfache Bauern beklagen sich, daß sie auf dem Markt von Tirana ausgeraubt werden und sie es daher vorziehen, gar keine Waren mehr anzubieten.

Ein Jahr nach der „Wende“ hat Albanien eine demokratische Verfassung, ein Mehrparteienparlament, kleine freie Zeitungen, auf dem Papier eine Bodenreform und ein Reprivatisierungsprogramm von einst verstaatlichtem Eigentum. Aber es hat keine politischen Kräfte, die die Erblast aus der Vergangenheit überwinden könnten. Weit tragischer als in Bulgarien oder Rumänien zerfleischen sich die jungen Demokraten, während das Land im Hunger versinkt und die Reformvorsätze nicht Wirklichkeit werden. Sowenig sich das Enver-Hoxha-Museum in einen jugendlichen Tanzschuppen umwandelte, so wenig gelang es den Politikern, die Menschen aus ihrer Lethargie herauszureißen und erste Zeichen einer hoffnungsvolleren Zukunft zu setzen.