Soziokulturelle Drahtseilakte

Mehr als 30 Millionen D-Mark stellt ein Kulturförderungsprogramm des Bundes zur Unterstützung der „soziokulturellen Infrastruktur“ in den neuen Ländern zur Verfügung. Und plötzlich stoßen zwei völlig unterschiedliche Welten aufeinander — das einstige „kulturelle Volksschaffen“ (Ost) mit seinen zahlreichen Klub- und Kulturhäusern und die einst alternative Szene (West), die an ihrer midlife-crisis leidet. Ein Bericht über deutsch-deutsche Verständigungsprobleme.  ■ VON EVA KRINGS

In den bewegten Siebzigern wurde auch unter westdeutschen Revolutionären unbotmäßigen Genossen im Falle eines Siegs des Proletariats die Entsendung in die Fischmehlfabrik angedroht. Bekanntlich kam es anders. Im real existierenden Sozialismus dagegen verteilte die Partei solche Bewährungschancen gern und großzügig, besonders an Intellektuelle und Kulturkader. So weisen selbst die Karrieren gestandener Genossen Einschnitte und Verwerfungen auf, mehrjährige Strafzeiten auf der Werkbank waren keine Seltenheit. In den meisten Fällen führte dies nicht zum Bruch mit dem System, sondern zur Ausbildung eines alltagstauglichen Pragmatismus, der ohne ideologischen Überhang versucht, das jeweils Beste für sich und die eigene Sache herauszuholen. Die mentale Mischung aus Anpassung und innerer Distanz, aus List und Loyalität, verwischte nicht nur die Grenzen zwischen Tätern und Opfern, sondern macht heute kulturpolitische Begegnungen von Ost und West zum Drahtseilakt.

Besonders der soziokulturellen Szene West, für deren Entstehen eine radikal antistaatliche Haltung von zentraler Bedeutung war, bleibt der doppelte Bezug vieler DDR-Kulturkader auf Staat und Partei unverständlich und dubios. „Gesunde Opposition“, nennt ein ehemaliger Kulturarbeiter, der für sieben Jahre aus der Dresdener Kulturarbeit in die Produktion von Weichspülmitteln abkommandiert wurde, nach der Wende kurz in das inzwischen aufgelöste Stadtkabinett für Kultur zurückkehrte und heute arbeitslos ist, das ständige Abwägen zwischen formellen Zwängen und informellen Spielräumen. Gern erzählt er, wie zur prachtvollen Wiedereröffnung der Semperoper „von oben“ der Aufmarsch der Weichspülbrigade inklusive fünfzehn roter Winktücher, dreier DDR-Fahnen und einer tragbaren Erich-Honecker-Bildtafel angeordnet wurde. Alle, vom Funktionär bis zum Mitläufer, hätten ihre Witze darüber gemacht und sich trotzdem ausnahmslos pünktlich auf dem Opernvorplatz eingefunden. Die Begeisterung dort sei nicht nur gestellt oder erzwungen gewesen: „Ihr könnt das nicht verstehen. Kein denkender Mensch fand die DDR gut, aber es war unsere kleine, bescheidene, graue Republik. Wir hatten sie selbst gemacht und kannten schließlich auch nichts anderes. Und gerade kulturell brauchten wir uns nicht zu schämen.“ Der alternative Heiligenschein, den die längst etablierte Soziokultur West immer noch gern putzt, erscheint ihm dagegen ziemlich aufgesetzt.

Das volkseigene Kulturschaffen (Ost)

Tatsächlich war die kulturelle Infrastruktur der DDR, zunächst quantitativ betrachtet, eindrucksvoll. Kulturwissenschaftler der Humboldt-Universität zählten 227 Bühnen, 87 Orchester, 719 Museen, 16.883 Bibliotheken und 1.709 Klub- beziehungsweise Kulturhäuser. Über Qualität und Bedeutung ist damit freilich noch nichts ausgesagt. Selbst bei repräsentativen Einrichtungen wie Theater oder Oper sind kaum Fakten über die reale (und freiwillige) Nutzung bekannt. Die Vergleichbarkeit mit westdeutschen Strukturen scheitert endgültig im Bereich der Breiten- beziehungsweise „Massen“- Kulturarbeit. Der Verdacht liegt nahe, daß die aufgeblähte Klub- und Kulturhausszene nicht zuletzt zur Verdeckung der Arbeitslosigkeit von oben installiert wurde. Der überwiegende Teil der 60.000 Kulturarbeiter, ein Berufsbild aus lokalbezogener Kontroll- und Versorgungsfunktion, findet sich inzwischen in einer der 1,5 Millionen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der neuen Länder wieder. Der gravierendste Unterschied der kulturellen Systeme liegt wohl darin, daß im Westen die Kommunnen als wichtigste öffentliche Kulturförderer und -träger fungieren. In der DDR fiel der kulturelle Bereich dagegen weitgehend in die Verantwortung der Betriebe. Der Ökulei, der ökonomisch-kulturelle Leistungsvergleich, sah vor, daß sich die Kollektive beständig im brüderlich-sozialistischen Wettbewerb maßen. Pflichtschuldig, aber auch, weil nicht mal das Taubenzüchten als unorganisiertes Vergnügen gestattet war, entstanden Betriebsfestspiele, betriebsunterstützte Bibliotheken, alimentierte Theaterzirkel und Skatturniere, Klubs, Tanzveranstaltungen und vieles mehr. Andere Träger waren etwa der Kulturbund, die Gewerkschaften, die FDJ, diverse „Massenorganisationen“ und dann und wann auch die Nationale Volksarmee. Die ganze Konstruktion verlor mit dem politisch-ökonomischen Zusammenbruch der DDR ihre Grundlage, Einrichtungen und Karrieren werden neu sortiert. Einige, auf die schon die SED nicht verläßlich zählen konnte, sind arbeitslos, andere, die vormals zur (mittleren) Leitungsebene zählten, entwickeln inzwischen in den neuinstallierten Kulturämtern Konzepte. Oft betreuen sie ausgerechnet den Haushaltstitel „Soziokultur“, denn dieses Synthetikwort aus der westlichen Reformküche scheint eine goldene Brücke vom kulturellen Volksschaffen (alt) zur Breitenkultur (neu) zu schlagen. Das Charakteristische der Soziokultur (West), ihre Durchsetzung gegen etablierte politische, kulturelle und administrative Strukturen, verschwindet dabei völlig aus dem Blickfeld. Auch die Organisationsform ermöglicht keine Unterscheidung in Initiativen von „oben“ oder „unten“. Nicht nur die einstige Sub- und Oppositionszene ist heute weitgehend in privaten Vereinen organisiert, auch leiten ehemalige Kader, Kontrolleure und Verhinderer „ihre“ Einrichtung weiter, nun in Form eines gemeinnützigen freien Trägers. Das Stichwort heißt: „Umprofilierung“. So soll sich ein FDJ-Club zum Stadtteilkulturzentrum wenden, ein Kulturhaus zum soziokulturellen Zentrum. Was aber ist Soziokultur? Die Klärung findet unter Zeitdruck statt. Zumindest das Land Berlin hat nach Recherche der „Bundesvereinigung Soziokultureller Zentren“ die Bundesmittel zur Förderung der „soziokulturellen Infrastruktur“ zur Umwegfinanzierung des eigenen Kulturhaushaltes verwendet. Freie Projekte gingen leer aus. „Das Problem ist“, so ein soziokultureller Aktivist (West), „daß man Soziokultur nicht definieren kann. Sie ist so vielfältig wie die Bedingungen vor Ort. Es gibt kein Rezept, man kann sie nicht kopieren, nur machen. Darin liegt auch ihre Stärke.“ Ohne Zweifel ist das richtig und die Zurückhaltung sympathisch. Doch bleibt unerwähnt, daß sich die soziokulturelle Szene der sogenannten alten Länder seit Jahren mit einer „Identitätskrise“ plagt. Die Vereinigung hat sie in diesem sensiblen Selbstklärungsprozeß kalt erwischt.

Die Aussteiger als Einsteiger (West)

Bewegungen haben keine Geburtsstunde und keinen Urheber. Das, was heute administrativ als „Soziokultur“ beschrieben wird und so unterschiedliche Projekte wie die Hamburger „Fabrik“, das Nürnberger „Komm“ oder das kleine Münsteraner „Kreativhaus“ umfaßt, hat seine Wurzeln unter anderem in der Studenten- und der nachfolgenden Alternativbewegung, damals noch emphatisch „Gegen-Kultur“ genannt. Sie waren Ausdruck und Träger eines gesellschaftlichen Wertewandels, der die verbreiteten deutschen Sekundärtugenden (Fleiß, Pflicht, Opferbereitschaft) zum ersten Mal kollektiv und öffentlich in Frage stellte.

Obwohl die meisten Akteure der soziokulturellen Szene — heute zwischen dreißig und vierzig Jahre — nicht zur Generation der Studentenbewegung gehörten, sondern zur nachfolgenden, sind die doch in einer Stimmung gesellschaftlichen Umbruchs aufgewachsen. Die Sehnsucht — und viel eigentümlicher, die Zuversicht —, das eigene Leben in die eigene Hand nehmen zu können, gemeinsam mit anderen verlorene Alltagskompetenzen zurückzugewinnen und die gesellschaftliche Entfremdung durch Selbstorganisation zu überwinden, stand am Anfang vieler Gegen-/soziokultureller Projekte. Um das richtige Leben schon im Falschen zu beginnen, wurden unzählige Betriebe und Initiativen gegründet. Über alles wurde gestritten: Arbeitsorganisation, Hierarchien, Geld, Beziehungen, Geschlechterverhältnisse, nirgends fehlten die unvergeßlichen und unvergessenen Plena über Konsumkultur, Verrat, Selbstausbeutung und Staatsknete. Daß sich manche Initiativen und Vereine ausdrücklich gegen eine staatliche Förderung entschieden, muß jemandem aus der untergegangenen DDR vorkommen wie ein mutwilliger Kamikazeakt. Das war es in der Regel auch. Ohne die Reform kulturpolitischen Handelns, in den siebziger Jahren weitgehend von sozialliberalen Kräften angestoßen und mittlerweile zumindest programmatisch („Kultur für alle“/„Kultur von allen“) durch alle politischen Lager akzeptiert, wären die Überlebenschancen für zahlreiche Zentren, Vereine und Initiativen gleich Null gewesen.

Inzwischen ist das soziokulturelle Milieu in die Jahre gekommen und hat sich auf einer in der Regel nach wie vor unzureichenden ökonomischen Ebene stabilisiert. 160 Kulturläden, Zentren und Bürgerhäuser haben sich (altbundesweit) in der Bundesvereinigung soziokultureller Zentren zusammengeschlossen. Ein recht heterogener Verband, citynahe Häuser für die neuen Mittelschichten mit professioneller Gastronomie und einem festangestellten Mitarbeiterteam wie mühsam auf ABM- und Ehrenamtsbasis werkelnde Kleinstvereine und viele, viele irgendwo dazwischen. Doch Soziokultur meint noch mehr: lokale Geschichtsarbeit, nicht staatlich organisierte Kulturpädagogik und politische Bildung, Bürgerinitiativen, Straßen- oder Stadtteilfeste.

Der soziokulturelle Kulturbegriff, der das überzeitlich Schöne durch das widersprüchliche Hier und Jetzt ersetzt, ist inzwischen fast überall Allgemeingut, um nicht zu sagen, Allgemeinplatz geworden. Geblieben sind die zähen Kämpfe ums Geld aus den knappen kommunalen Haushalten. Doch wie so häufig, wenn Karrieren mühsam, im großen und ganzen jedoch erfolgreich verlaufen, plagt die Akteure ein undeutliches Verlustgefühl. Und gemessen an den radikalen Ansprüchen der Anfangszeit lassen sich in der Tat Verluste verzeichnen:

Die Selbstverwaltung durch Macher und Nutzer hat in den meisten Fällen einer mehr oder weniger effektiven Mitarbeitermitverwaltung Platz gemacht, und das eigene Programm ist nur im Ausnahmefall Widerpart städtischer Kultur, manchmal Vorreiter, meist Ergänzung. Vielen soziokulturell Engagierten fehlt heute vor allem der Gegner, der durch seine Existenz die eigene Identität als historisch notwendig erscheinen läßt. Die Zeit ist lange reif für eine neue gesellschaftliche Verortung, „Kongreß der SiegerInnen — Auf zu neuen Ufern“, heiß denn auch das Motto des letzten Bundeskongresses (1989) der soziokulturellen Zentren. Dabei hatte man allerdings an das unbekannte Land Utopia gedacht, und bestimmt nicht an Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern oder Thüringen.

Der Nichtangriffspakt (Ost-West)

Reibungspunkte gäbe es also genug, ginge man den unterschiedlichen Geschichten, Werten und Mentalitäten einmal nach. Doch das Einzige, was derzeit explodiert, ist das vereinigte Tagungswesen. An Geld scheint es nicht zu mangeln, und so beschleunigt der ohnehin umtriebige kulturpolitische Kongreßzirkus seit zwei Jahren unverdrossen weiter das Tempo. Prominenz und Funktionäre aus Ost und West hetzen beständig durch „das größer gewordene Deutschland“, um sich an allen möglichen und unmöglichen Orten erneut gegenüber zu sitzen. Das Auftauchen „normaler“ Menschen aus künstlerisch- kulturellem Milieu ist schon beinahe bemerkenswert. Insofern war die pünktlich zum Vereinigungsjubiläum von der Hamburger AG Stadtteilkultur, der Bundesvereinigung soziokultureller Zentren, der Kulturpolitischen Gesellschaft, dem Verein Kulturstadt Dresden und dem Kulturdezernat der sächsischen Landeshauptstadt veranstaltete Tagung „z.B. Dresden...“ eine Ausnahme. Nicht nur die Teilnehmerliste, auch der Augenschein bewies, daß sich tatsächlich — auch — soziokulturelle Akteure aus Ost und West eingefunden hatten, die keine Funktionsträger waren. Die Wahl des Tagungsortes war programmatisch: Die „Scheune“ in der Dresdner Neustadt wurde 1956 als Jugendeinrichtung gebaut, kein Plattenbau und ziemlich offen zur Straße hin. Besonders eng am Gängelband der Partei hat sie wohl nicht gehangen, trotz Sabotage von oben (Heizungsdefekt, Stromausfall und so weiter) las dort dann und wann auch ein ungeliebter Dichter, und ein leibhaftiges Kamel soll schon im Vorgarten gegrast haben. Inzwischen löst ein kommissarischer Leiter den nächsten ab, das Personal wurde reduziert und über ABM-Kräfte und Zivildienstleistende gleich wieder aufgestockt. Im Büro steht ein Fotokopierer der Spitzenklasse, gesponsert vom Hersteller. Das Programmangebot wie auch das der anderen Klubs und Häuser in Dresden oder Leipzig unterscheidet sich so auffallend wenig vom westdeutschen Standard, daß man sich unwillkürlich fragt, was wohl vor 1989 gelaufen ist. Jetzt jedenfalls gibt's Mädchentreffs, Meditiationskurse, Mitternachtsdiskos, Techno-House-Parties, Tips für die vegetarische Küche und die musikalische Empfehlung für das nächste Konzert kommt von Dietrich Dietrichsen.

Die Hoffnung auf eine aufregende, vielleicht ärgerliche Benennung der Unterschiede der Soziokulturen West und Ost mußte leider bereits mit den drei Eingangsstatements begraben werden. Der Kulturdezernent, erst seit neulich in der CDU und von Beruf Restaurator, präsentierte sich als „Lernender“ und wußte doch schon längst, worauf es ankommt: „Kultur als Bindeglied hat die Aufgabe zu harmonisieren. Dabei wirkt sie auf die Gesellschaft im Ganzen als auch auf die Persönlichkeit im Einzelnen.“ Der Vertreter der Vereins Kulturstadt Dresden hielt eine Rede für das Prinzip Hoffnung, und die bunte Republik Neustadt sprach ernsthaft und voller Andeutungen, die zumindest den angereisten Wessis dunkel bleiben mußten und die sie selbst nicht vorschnell mit eigenen Erfahrungen anfüllen wollten. Und der Sprecher der Bundesvereinigung soziokultureller Zentren konstatierte, in den Problemen unterscheide man sich gar nicht so sehr, jetzt gelte es, gemeinsam der drohenden „Hyänengesellschaft“ die Stirn zu bieten.

Kein Wunder also, daß der einzige streitbare Vortrag eines Soziologen vom Deutschen Institut für Urbanistik (West) ins Leere ging: Soziokultur im Osten könne nur entstehen, wenn die Menschen, frei nach Marx, sich zu Subjekten der eigenen Geschichte machten. In der entwickelten Konsumgesellschaft des Westens hingegen sei die Selbstartikulation der soziokulturellen Szene ein lang vorbereiteter kultureller Bruch gewesen, dessen künftige Bedeutung aber höchst unklar sei. Bis auf sehr vereinzelten Unmut traf das Referat auf vereinigtes soziokulturelles Schweigen. Fürs nächste Jahr ist nun ein großer Kongreß geplant, der Stand und Perspektiven der europäischen Soziokultur erkunden will. Nichts wie auf zu neuen Ufern...