Ein Wirtschaftsriese ohne Richtung

Wird Brasilien künftig Industriemacht bleiben oder wieder zum Rohstofflieferanten degradiert?/ Die achtgrößte Wirtschaftsnation ist skeptisch, der IWF-Schrumpfkur seiner Nachbarstaaten zu folgen  ■ Aus Rio Astrid Prange

„Brasilien ist so groß; es paßt nicht in den Schlund des Abgrunds“, tröstet ein brasilianisches Sprichwort die krisengeschüttelte Nation. Während Argentinien, Venezuela, Chile, Kolumbien und Bolivien ihre Inflation langsam, aber sicher in den Griff bekommen, so scheint es, verharrt der Gigant Südamerikas in Lethargie. Brasilien, achtgrößte Wirtschaftsnation der Welt, will sich nicht so recht in die ökonomische Neuordnung Lateinamerikas einzufügen. Das mit Abstand am weitesten industrialisierte Land wehrt sich noch, für wirtschaftliche Stabilität seinen Industriepark zu opfern und wieder zum Rohstofflieferanten zu werden. Doch geht es den lateinamerikanischen Nachbarländern Brasiliens wirklich soviel besser?

Jüngstes Beispiel für die vom Weltwährungsfonds (IWF) verordnete Schrumpfkur ist Argentinien. Wirtschaftsminister Domingo Cavallo feierte im November eine Inflationsrate von 0,4 Prozent, die niedrigste seit 18 Monaten. Die magische Formel für diesen Erfolg heißt „Dollarisierung“ sowie eine radikale Abschaffung aller Handelsbarrieren. Cavallo koppelte die Zirkulation der nationalen Währung „Austral“ an das Volumen der Devisenrücklagen. Je höher die Reserven, desto mehr Geld wird in Umlauf gebracht. Schrumpfen die Devisen, gerät auch die Notenpresse ins Stocken.

Die bestechend einfache Idee hat allerdings einen Haken: Argentinien muß über einen prallen Staatssäckel verfügen, um seinen Auslandsverpflichtungen nachzukommen. Solange die beschlossenen Steuererhöhungen und Entbürokratisierungspläne noch keinen Haushaltsüberschuß produzieren, bleibt der Regierung nichts anderes übrig, als die Staatsbetriebe zu verkaufen. Die Privatisierung ist ein Wettrennen mit der Zeit: Entweder Argentinien schafft es, in kürzester Zeit seine Staatsfinanzen zu sanieren, oder aber der Staat bricht zusammen.

Einen der größten Erfolge konnte mit Verkauf der staatlichen Fluglinie „Aerolineas Argentinas“ an die staatliche spanische Fluglinie „Iberia“ eingefahren werden, die sich auch bei der „Lan Chile“ und der venezuelanischen „Viasa“ günstig eingekauft hat. Der zweite Coup war die Privatisierung der Telefongesellschaft „Entel“, die nun größtenteils von der spanischen „Telefónica“ kontrolliert wird. Die miserable Qualität des argentinischen Kommunikationsnetzes verbesserte sich durch den Besitzerwechsel allerdings nicht, lediglich die Preise stiegen an. Auch von der Privatisierung der „Aerolineas Argentinas“ haben die VerbraucherInnen wenig: der Service ist nach wie vor schlecht. Wachsende Qualität scheint ohnehin nicht das oberste Gebot der Firmen aus der „Madre Patria“ (Mutterland) zu sein: Die Spanier sind eher daran interessiert, auf dem lateinamerikanischen Markt für das europäische Terrain zu proben. Nicht mehr die Iberier, sondern die US-Amerikaner dominieren heute die Wirtschaft Lateinamerikas.

Geschockt von den Auswirkungen der Dollarisierung und der totalen Marktöffnung war der brasilianische Unternehmer Paulo Triches, der für den Waschmaschinenhersteller „Enxuta“ aus Südbrasilien Handelskontakte nach Argentinien knüpft. Triches beliefert die argentinische Firma „Yelmo“ mit 1.200 Waschmaschinen im Monat. Das Unternehmen, das bis vor kurzem seine Erzeugnisse selbst herstellte, importiert heute 80 Prozent seiner Produktion. „Ist es etwa unser Schicksal, in Zukunft ebenfalls lediglich als Verteiler von Importprodukten zu fungieren?“ fragt der Händler besorgt.

Die Pläne des Weltwährungsfonds (IWF) gehen genau in diese Richtung. Brasiliens Präsident Fernando Collor verpflichtete sich vergangene Woche in seiner neunten Absichtserklärung beim lateinamerikanischen Gipfeltreffen gegenüber dem IWF zum Rezessionskurs: Mit Privatisierungen, hohen Zinsen, sinkenden Löhnen, Haushaltskürzungen, einer Steuerreform und der Öffnung des 150 Millionen Menschen starken brasilianischen Marktes will sich das Land gesundschrumpfen.

Andere Länder Lateinamerikas haben die schmerzhafte Kur bereits hinter sich. Chiles Ex-Diktator Augusto Pinochet begann 1981 mit den Reformen. Den Preis für die Rückkehr in die internationale Wirtschaftswelt war gesalzen: Die ChilenInnen mußten zeitweise mit 24 Prozent Arbeitslosigkeit zurechtkommen und drastische Kürzungen der Sozialetats schweigend hinnehmen. Heute kann sich das Land mit dem Export von Kupfer, Früchten, Fischen und Hölzern als Rohstofflieferant behaupten. In Bolivien dagegen herrscht trotz niedriger Inflation weiter soziale Chaos. Das Andenland, das 1985 eine Jahres-Hyperinflation von 25.000 Prozent aufwies, reduzierte in den 80er Jahren seine Ausgaben im Gesundheitsbereich um zwei Drittel. Die Inflationsrate liegt heute bei monatlich einem Prozent. Die von Drogenhandel, Zinn- und Gasproduktion beherrschte Wirtschaft ging im selben Zeitraum um vier Prozent zurück. Venezuela besinnt sich nach einer langwierigen Rezessionsphase ebenfalls auf seine Rohstoffe. Die Einnahmen aus dem Verkauf von Erdöl machen ein Zehntel des Bruttosozialprodukts aus. Uruguay mauserte sich in den letzten Jahren zur Schweiz Lateinamerikas. Das Steuerparadies, wo vermutlich die Drogendollars aus Kolumbien und Bolivien gewaschen werden, verfügt kaum mehr über eine eigene Industrie. Neben den Geldgeschäften bezieht das Land seine Einnahmen lediglich aus Landwirtschaft und Tourismus.

Ist Brasilien dagegen ein Riese ohne Richtung? „Für uns gibt es keine schnellen Lösungen wie für Uruguay oder Chile. Wir sind ein Land mit kontinentalen Ausmaßen wie China, Rußland oder Indien“, erklärt Wirtschaftsminister Marcilio Moreira. Moreira, enger Freund des IWF-Vorsitzenden Michel Camdessus, verteidigt tapfer die verordnete Schrumpfkur. Bescheidene Ergebnisse kann er bereits vorweisen: Die Inflation ist im November nicht gestiegen und hat sich bei 27 Prozent im Monat eingependelt. Vier Staatsbetriebe wurden bereits privatisiert, und das Interesse an Filetstücken wie etwa der Telefongesellschaft „Telebrás“ ist außerordentlich groß.

Nach über zehnjähriger Wirtschaftskrise nähert sich die Opferbereitschaft der BrasilianerInnen jedoch langsam dem Ende. Wer es sich leisten kann, flieht vor Rezession und Arbeitslosigkeit ins Ausland. In Rio hat sich angesichts der Schlangen vor dem US-amerikanischen Konsulat bereits ein neuer Beruf herausgebildet: Für umgerechnet 80 Dollar stellen sich Platzhalter bereitwillig bei 40 Grad im Schatten für ein Visum ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten an....