Reise durch ein besetztes Land

Auf einer Tour durchs türkische Kurdistan werden die Besucher Zeugen der Besatzung/ Repressionsmaßnahmen von Armee und Polizei fallen den Fremden zur Last und sind für die Bevölkerung unerträglich  ■ Von Peter Senger

Die Berge gehören der Guerilla“, erklärt lächelnd der junge Kurde und deutet mit den Augen auf die kahlen Felsenkämme der Dreitausender, die zu beiden Seiten des engen Tals aufragen. Wir holpern in einem Kleinbus, dem einzigen öffentlichen Verkehrsmittel in diesem Teil der Welt, über eine steinige Piste, die dem Lauf eines olivfarbenen Flüßchens folgt. „Das türkische Militär wagt sich nur mit schwerbewaffneten Konvois hierher, oder mit Helikoptern.“ Wie zur Bestätigung seiner Worte hören wir kurze Zeit später das ferne Knattern eines Hubschraubers, der als kleiner Punkt am Himmel auftaucht. „Tiefer trauen sie sich nicht runter“, kommentiert unser Mitfahrgast spöttisch.

Heute morgen verließen wir Hakkari, den Hauptort der gleichnamigen türkischen Provinz. Wir sind auf unsere Rundreise durch Ostanatolien in die hinterste Ecke der Türkei geraten — das ist das Herz Kurdistans. Hier treffen sich die Grenzen jener Staaten, die den Großteil des kurdischen Siedlungsbietes unter sich aufgeteilt haben: 20 Kilometer südlich verläuft die irakische Grenze, hundert Kilometer östlich die iranische.

Die Kontrolle über diese unzugängliche Gegend hat die türkische Regierung offensichtlich an die Guerilleros der „Arbeiterpartei Kurdistan“ (PKK) verloren. Um so massiver präsentiert sich die Staatsgewalt in den Städten der Region. Hakkari, ein Ort von etwa 10.000 EinwohnerInnen inmitten einer phantastischen Hochgebirgslandschaft, scheint eine einzige große Kaserne zu sein. Trupps von Soldaten patrouillieren mit schußbereiten Gewehren durch die Straßen. Die Kreuzungen werden von Polizisten bewacht, die mit automatischen Waffen ausgerüstet sind. Selbst die Bankangestellten tragen Pistolen.

Die KurdInnen in den Straßen und Teestuben demonstrieren Alltag. Angesichts der geballten Militärmacht bleibt ihnen nichts anderes übrig. Doch das Bewußtsein, in einem besetzten Land zu leben und der Willkür fremder Truppen ausgeliefert zu sein, ist allgegenwärtig. Unverhohlen wird uns gegenüber, im Laufe zahlreicher Einladungen zum Tee, die Ablehnung des türkischen Regimes zum Ausdruck gebracht. Es herrscht Ruhe — zähneknirschend.

Der Arm der Staatsmacht reicht jedoch nicht allzu weit über die Stadtgrenzen hinaus. In den Bergen ist sie nur noch durch die sogenannten „Dorfschützer“ vertreten. „Verräter“, zischt ein Fahrgast verächtlich, als wir einigen von ihnen unterwegs begegnen. Die Milizionäre tragen den uniformen Kurdenanzug mit breiter Leibbinde und das zum Turban gewundene Kopftuch. Über der Schulter hängt die unvermeidliche Kalaschnikow — nebst zahlreichen Patronenmagazinen. Die „Dorfschützer“ sollen verhindern, daß sich die Trupps der PKK in den Dörfern mit Nahrungsmitteln versorgen können. „Oft sind es arme Bauern, die von der Regierung ein Gehalt und ein Gewehr bekommen“, erklärt man uns, „doch es kommt auch häufig vor, daß sie vom Militär dazu gezwungen werden. Wer sich weigert, wird als Sympathisant der PKK behandelt, und das kostet Hab und Gut oder Gesundheit und Leben.“

Wir passieren kurdische Dörfer, ein Bild trügerischen Friedens: Steinhäuser mit flachen Lehmdächern unter mächtigen Walnußbäumen, kleine Getreidefelder an den Berghängen, Packpferde mit Brennholz; Frauen backen Brot, Kinder hüten Ziegen. Von Zeit zu Zeit tauchen schwarze Ziegenhaarzelte und Laubhütten eines Nomadenlagers am Fluß auf.

Unser Kleinbus quält sich im Schrittempo eine staubige, gewundene Piste bergauf. Einige Nomadenmädchen, auf dem Weg zu ihren Herden, springen hinten auf den Wagen und erklimmen das Dach. Der Fahrer läßt sie gewähren. Auf halber Höhe bietet sich uns ein biblisches Bild: Inmitten der gelbbraunen, kahlen Gebirgslandschaft lagert eine große Herde schwarzer Ziegen, die von bunt gekleideten Frauen gemolken werden. Schon wenige Kilometer weiter wird der Reisende in die politischen Realitäten zurückgeholt. Die Polizeistation auf der Paßhöhe ist verlassen. Zahllose Einschußlöcher zeugen von heftigen Kämpfen um die Kontrolle der Gebirgsstraße.

Westlich von Beytüssebap, einem kleinen Gebirgsstädtchen ohne Hotel aber mit starker Garnison, liegt in den Dörfern wieder schwer bewaffnete Gendarmerie. Die Überprüfung der Reisenden beschränkt sich nicht auf ihre Papiere. Oft müssen sich die männlichen Fahrgäste mit hocherhobenen Händen in einer Reihe vor dem Wagen aufstellen, bevor sie nach Waffen durchsucht werden. Die Kurden lassen mit verschlossener Miene diese Prozedur über sich ergehen. Szenen aus einem besetzten Land.

Doch auch den jungen türkischen Soldaten ist nicht wohl in ihrer Haut. Sie sind als Wehrpflichtige in einen Krieg geraten, der nicht der ihrige ist. Vor wenigen Tagen überfiel die PKK einen Militärposten unweit von hier. Fünf Soldaten wurden getötet und fünf schwer verletzt.

In jeder Ortschaft, an jeder wichtigen Straßenkreuzung das gleiche Bild: kriegsmäßige Militärstellungen hinter steinernen Brustwehren. Selbst Bauern, die mit ihren Traktoren oder Eseln aufs Feld wollen, werden überprüft. Die Anwesenheit zweier europäischer Touristen im „Kurdenbus“ wird von den Gendarmen teils mit Verwunderung, teils mit Mißtrauen aufgenommen. In einigen Ortschaften müssen wir ins Polizeihauptquartier, wo unsere Personalien notiert werden. Die übrigen Fahrgäste sind nicht etwa verärgert über diese zusätzliche Verzögerung; vielmehr schafft die Konfrontation mit der Staatsmacht ein Klima der Solidarität unter den Passagieren.

Ob die massive staatliche Repression ihr Ziel erreicht und mehr Einschüchterung als Gegenwehr erzeugt, bleibt abzuwarten. Ein Ergebnis ist allerdings jetzt schon offenkundig: Das kurdische Nationalbewußtsein ist im Aufschwung begriffen. „Ich bin Kurde, kein Türke“ — diese Klarstellung leitet manche Diskussion ein. Symbole kultureller Identität sind die Lieder des kurdischen Sängers Schiwan, der im deutschen Exil lebt. Sie tönen in unzähligen Varianten stundenlang aus den Kasettenrekordern der Kleinbusse und verstummen nur während der Polizeikontrollen. Im privaten Gespräch verhehlt kaum ein Kurde seinen Wunsch nach einem unabhängigen Kurdistan. Viele setzen ihre Hoffnungen auf „Onkel Apo“ und meinen damit Abdullah Öcalan, den Chef der PKK, und seine Partisanen.

Das Verlangen nach nationaler Selbstbestimmung ist nicht nur eine Reaktion auf die herrschende Unfreiheit, sondern wird auch als Ausweg aus der wirtschaftlichen Rückständigkeit und der kulturellen Unterdrückung gesehen. Ost- und vor allem Südostanatolien, also die kurdischen Siedlungsgebiete, gelten als das Armenhaus der Türkei. Es gibt kaum Industrie, die Teestuben sind voller arbeitsloser Männer, viele Bauern arbeiten als Tagelöhner für die Agas, die kurdischen Großgrundbesitzer. Die feudalen Strukturen werden von der türkischen Regierung nicht angetastet. „Wir sind arm, weil wir Kurden sind“ — diese Klage enthält bereits die Analyse der Ursache.

Noch immer ist die kurdische Sprache im Verkehr mit Amtspersonen verboten. Wir treffen eine Frau, die wie viele DorfbewohnerInnen nur kurdisch spricht und sich deshalb nicht mit dem Arzt im Krankenhaus unterhalten kann. Sie muß ihren Neffen als Dolmetscher mitnehmen — eine Ausländerin im eigenen Land.

In der Stadt Siirt, einem Zentrum des Widerstandes und der Repression, weichen uns die Zivilpolizisten nicht von der Seite. Sie notieren mehrfach unsere Personalien, warten an der Hotelrezeption bis wir schlafen gehen und klopfen früh um sieben Uhr an der Zimmertür, um zu fragen, wann wir wieder abreisen. Weder ein Besuch des Basars noch der einer Teestube ist ohne Polizeibegleitung möglich, das Fotografieren ist auch verboten. Für Touristen ist diese Überwachung lästig, für die Bevölkerung hingegen schier unerträglich.

Das Gebiet zwischen Siirt und Sirnak ist seit Jahren besonders unruhig. Anschläge der PKK wechseln sich ab mit Vergeltungsmaßnahmen des Militärs gegen die Dörfer. Der Liebreiz der Landschaft — sanfte Berge, kleine Wälder, grüne Flußtäler — kann nicht über den zivilisatorischen Zerfall hinwegtäuschen: kaputte Straßen, verlassene Dörfer, zerstörte Häuser. Neue Siedlungen erweisen sich aus der Nähe als Kasernen. Auf einer Strecke von 100 Kilometern wird unser Sammeltaxi achtmal kontrolliert, wobei hier unsere Pässe besonderen Argwohn hervorrufen.

Wir erreichen Cizre am Tigris. Vor dem Golfkrieg war die Stadt ein quirliger Handelsplatz, zahlreiche Geschäfte, Hotels, Restaurants und Werkstätten lebten vom Verkehr zwischen Europa beziehungsweise der Türkei und dem Irak. Heute bleiben viele Rolläden geschlossen. Vom Dach unseres Hotels bietet sich ein weiter Blick über die flachen Häuser der Stadt und den träge dahinfließenden Tigris. Dieses idyllische Bild läßt fast vergessen, daß auch in Cizre Ausnahmezustand herrscht.

Durch die Straßen rollen gepanzerte Militärfahrzeuge mit Maschinengewehren. Die Polizisten halten ihre Waffen schußbereit aus den Wagenfenstern — ein unangenehmes Gefühl für die PassantInnen. Des nachts richten die Patrouillen starke Scheinwerfer auf die Fassaden der Häuser, offenbar aus Angst vor Heckenschützen. Vor kurzem wurde eine Frau, die sich in der Dunkelheit auf ihrem Balkon aufhielt, von einer solchen Polizeistreife erschossen.

Westlich von Cizre führt die Straße, ein Teil der alten Seidenstraße, an der syrischen Grenze entlang durch ebenes Land. Am Rande der riesigen, künstlich bewässerten Baumwollfelder wohnen Wanderarbeiter mit ihren Familien in Laubhütten. Die Werk- und Raststätten an der Transitstraße wurden aufgegeben, als mit dem Beginn des Golfkrieges die Lastwagen ausblieben.

Schon von Ferne erkennt man die kugelförmigen amerikanischen Radaranlagen, die wie überdimensionale Melonen auf dem Berg über der Stadt Mardin thronen. Die alten, festungsartigen Wohnhäuser liegen malerisch am Hang. Hier leben vor allem AraberInnen und KurdInnen. Im orientalischen Basar der Stadt trifft man häufig Peschmergas aus dem nahem Flüchtlingslager, die als Lastträger und Kleinstwarenhändler versuchen, ihre Familien zu ernähren.

Zwischen Mardin und Diyarbarkir wird intensiv Ackerbau betrieben. Die jetzt abgeernteten Getreidefelder dehnen sich von Horizont zu Horizont. Modern ausgerüstete Bohrtrupps suchen nach Öl. Kurdistan ist ein reiches Land, reich an Öl und vor allem an Wasser. Euphrat und Tigris mit allen ihren zahlreichen Nebenarmen fließen durch kurdisches Gebiet. Gewichtige Gründe für die türkische Regierung, den KurdInnen ihre Selbstbestimmung zu verweigern.

Ausgangs- und Endpunkt unserer Reise ist Diyarbakir, das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum Türkisch-Kurdistans. Die alte Stadt liegt auf einem Basaltmassiv am Ufer des Tigris, umgeben von einer gewaltigen Mauer aus römischer Zeit. Den zahlreichen historischen Gebäuden aus vielen Epochen hat der türkische Staat auch einige hinzugefügt. Am bekanntesten unter KurdInnen ist das riesige Gefängnis mit vielen politischen Häftlingen, eine grauenhafte Stätte der Folter und des Todes.

Die TouristInnen meiden Diyarbarkir in diesem Jahr. Dafür gibt es um so mehr Polizisten. Den KurdInnen wäre es umgekehrt lieber. An Straßenkreuzungen und belebten Plätzen sind Mannschaftswagen der Polizei stationiert. Durch die Gassen der Altstadt und des Basars schlendern Zivilpolizisten, deutlich zu erkennen an ihrem Funksprechgerät und der Pistole, die unter dem Hemd herausschaut.

Auf unserem Stadtbummel sehen wir ein Haus, dessen oberstes Stockwerk völlig zerstört ist. „Das war das Büro des Menschenrechtsvereins“, erklärt uns ein Bekannter, „solche Bombenanschläge werden in letzter Zeit immer häufiger gegen politisch unliebsame Personen und Einrichtungen verübt. Die Attentäter und Mörder stammen meist aus den Reihen der Konter-Guerilla, einer türkischen Geheimdienstorganisation.“

Bei einem Abendspaziergang auf der Stadtmauer lassen sich die Dachterrassen der umliegenden Häuser einsehen. Die Menschen genießen den Sonnenuntergang. Man grüßt uns freundlich winkend; die Kinder brechen in lautes „Okay, okay“-Geschrei aus, der übliche Anruf für Touristen. Einige Jungs schließen sich uns an. Neugierige Fragen nach dem Woher und Wohin. „Frankfurt, Almanya“, antworten wir, „und ihr?“ Drei Hände strecken sich uns entgegen, die Finger zum Victory- Zeichen erhoben: „Diyarbakir, Kurdistan!“

Am nächsten Morgen verfolgt uns ein Zivilpolizist bis in den Laden eines Teppichhändlers. Nachdem er eine Weile stumm zugehört und die Überzeugung gewonnen hat, daß wir normale Touristen und keine Journalisten sind, zieht er wieder ab. Seit den internationalen Presseberichten über das Massaker vom Juli dieses Jahres ist Diyarbakirs Polizei nicht gut auf Journalisten zu sprechen.

Ein Augenzeuge schildert uns die Vorgänge vom 10.Juli: An diesem Tag wurde in Diyarbakir der bekannte Menschenrechtler und Oppositionspolitiker Vedat Aydin zu Grabe getragen. Zivilpolizisten hatten ihn wenige Tage vorher verhaftet, später wurde seine von Folterspuren gezeichnete Leiche in einem Straßengraben gefunden. Seine Beerdigung entwickelte sich zur politischen Demonstration, an der sich über 80.000 Menschen beteiligten. Polizisten und maskierte Spezialeinheiten eröffneten das Feuer und richteten ein Blutbad an. Die Bilanz des Tages waren 60 Tote, Hunderte von Verletzten und fast 1.000 Verhaftete. die Polizei verbot den ÄrztInnen in den Krankenhäusern, den Verletzten zu helfen. Die Verhafteten erhielten die in der Türkei übliche Behandlung: Sie wurden von der Polizei gefoltert.

Weniger spektakulär, doch nicht weniger tragisch sind Ereignisse, wie sie heute zum Alltag in Kurdistan gehören und in keiner Zeitungsnotiz Erwähnung finden, schon gar nicht in Europa. Während unseres Aufenthalts in Diyarbakir spielen sich folgende Vorfälle in der Umgebung der Stadt ab: Eine Bauernfamilie erhält die Nachricht, daß sie die Leiche ihres Sohnes bei der Gendarmerie abholen kann. Er hatte sich als Wehrpflichtiger geweigert, eine Waffe in die Hand zu nehmen. Er wurde, wie in der Türki(Nato-)Armee üblich, von den Offizieren geschlagen. Als er in den Hungerstreik trat, ließ man ihn sterben. Der andere Fall ereignet sich in der Nähe eines Dorfes, wo sich fünf PKK-Guerilleros in den Bergen versteckt halten. Jemand verrät sie an die Polizei. In einem Militäreinsatz werden die sogenannten Terroristen vom Hubschrauber aus mit Giftgas getötet, wie Ungeziefer. So endet eine normale Polizeiaktion.