Ein Volk zum Diktat zitiert

■ Zur Hauptsendezeit: Rechtschreiben bei dem niederländischen Sender NOS

Als am Sonntag abend ARD und ZDF ihren einzigartigen Versuch am lebenden Zuschauer durchführten, indem sie den Millionen zu Hause die Aufgabe zugeteilt hatten, per Fernbedienung in die Handlung einzugreifen, erfüllte etwa zeitgleich ihr öffentlich-rechtliches Pendant in den Niederlanden, die NOS, ihren Auftrag zur Volksbildung in ganz anderer, konkreterer Weise: Um zu testen, ob es um die Sprachfertigkeit der Niederländer wirklich so schlimm steht, wie viele Lehrer heute behaupten, hatte der Sender das Volk live zum Diktat gebeten. Für eine Stunde drückte die Nation wieder die Schulbank. Und nicht etwa ein gewöhnliches Klassenzimmer bildete die Kulisse für diesen öffentlichen Wiederbelebungsversuch des alten Rechtschreib-Aufsatzes, sondern der Sitzungssaal des Parlaments in Den Haag.

27 Prominente — Schriftsteller und Funk- und Zeitungsredakteure — saßen auf den traditionsreichen, calvinistisch harten Holzbänken, wo sich wochentags die Volksvertreter wohlfeile Worthülsen um die Ohren schlagen. Daneben weitere 30 überreife Oberprimaner aus dem gemeinen Volk, die sich über eine Ausscheidungsrunde qualifiziert hatten. Und da Niederländisch bekanntlich nicht ausschließlich in der Heimat von Rudi Carrell gesprochen wird, hatte man auch eine Handvoll Flamen eingeladen. Wie einen zusätzlichen Ansporn müssen diese es aufgefaßt haben, genau unter dem Bildnis des Oranienkönigs Willem II. plaziert worden zu sein, der 1831 von diesem Saal aus den Feldzug der Niederlande gegen das abtrünnige Belgien befohlen hatte.

Der Aufsatz selbst — ein gut gehütetes Geheimnis bis zur feierlichen Öffnung des versiegelten Briefes — war ein literarisches Glanzstück. Die erste Lesung bereits trieb den Literaten und Meinungsmachern den Angstschweiß auf die Stirn, mußten sie doch im Anschluß beweisen, daß sie auch ohne die Betreuung von Verlagslektoren und -korrektoren der Muttersprache mächtig sind. Und es geschah das, was die Organisatoren des Wettbewerbs — neben NOS und dem belgischen Sender BRT die Zeitungen 'Volkskrant‘ aus Amsterdam und 'De Standaard‘ aus Brüssel — in den vergangenen Wochen schon befürchtet hatten: Es steht nicht zum Besten mit der Rechtschreibung der meisten Flamen und Niederländer. Und, berücksichtigt man das Durchschnittsalter der Teilnehmer, eben nicht erst seit dem Absinken ins Mittelstufen-Zeitalter. 1.404 Rechtschreibfehler teilten sich die 57 Schüler, durchschnittlich 24 bis 25 machten folglich die Schreibkundigsten der beiden Länder. Am schwächsten schnitten im übrigen die Intellektuellen ab; erst auf Platz zehn kam mit zwölf Fehlern ein belgischer Journalist.

Und wie steht es um die Zuschauer? Die wurden, wie auch der Autor dieser Zeilen im Kreise seiner Familie, in den Montagsausgaben der überregionalen Zeitungen gewahr, daß sie entgegen landläufiger Überzeugungen auch nicht viel besser schreiben können als ihre Kinder und Enkel. Henk Raijer