Ins Innere des Pfeifenwaldes

■ Ochsenknochen, Register, Windladen: Wie „Bremens tollste Orgel“ funktioniert / Der Neubau von Kern & Fils in St. Hedwig

Daß um den katholischen Altar Feilen, Raspeln, Stecheisen und Schrauben herumliegen, macht die Situation erst recht nicht weniger anrührend: an einem Samstagabend in der menschenleeren, spärlich beleuchteten Kirche St. Hedwig in der Vahr zugucken, riechen, hören zu dürfen, wie an die funkelnagelneue Orgel letzte Hände gelegt werden. Von Daniel Kern aus Straßburg, Inhaber und Mit-Arbeiter der international berühmten Orgelbaufirma Kern & Fils. Und von Martina Kürschner, der 37jährigen Kantorin.

Deren Begeisterung über die neue Orgel, ihre Orgel, ist unwiderstehlich ansteckend. Wie sie an den Registern zieht, Töne aussucht, Klangfarben zusammen- und gegeneinander stellt, das erinnert fast an eine Weinprobe: „So eine Delikatesse! Hören Sie, die 'Fourniture', dieser Reichtum an Obertönen! Oder hier 'Bourdon 16': so ein farbenreicher, runder, würdevoller Klang!“

Es riecht nach frisch gebohrtem Holz, nach leicht geöltem Metall und nach katholischen Kirchen. Orgelbauer Kern, 41jährig, bärtig, freundlich und doch ein bißchen stolz, richtet im geöffneten Bauch der Orgel die letzten Pfeifen ein. Eine, das tiefe „C“, liegt noch quer und groß über der vorderen Stuhlreihe. Natürlich ist das keine Fabrikware. Jede einzelne der über 1.000 Pfeifen wurde aus einer Zinnlegierung im Hause Kern gegossen. Keine klingt wie ihre Schwestern, auch wenn sie sich zum Verwechseln ähnlich sehen: Durchmesser und Länge der Rohre („Klangbecher“), Breite und Höhe des Luftschlitzes („Labium“) machen aus jeder einzelnen ein Unikat.

Von außen sieht man sowieso nur die 56 Pfeifen des „Montre“- Registers, den „Orgelprospekt“. Hunderte von anderen liegen, in Reihen eng gestaffelt und mit der Luftzufuhr aufs feinste verbunden, dahinter.

Aber vor den Bau der Orgel hatten die Götter die Qual der Wahl gesetzt. Diese ist den berühmten Andreas-Silbermann- Orgeln in Bau und Klang nachempfunden: eine französische Barock-Orgel, einmalig im ganzen norddeutschen Raum.

Der Orgelbauer hat manchmal „durchaus schon Aufträge nicht angenommen, wenn unsere Vorstellungen und die des Kunden zu weit auseinanderlagen.“ Hier aber paßte alles. „Das ist einmalig wie ein Hausbau“, sagt Martina Kürschner, „und eine so komponierte Orgel wie unsere gibt es nirgendwo sonst auf der Welt.“ Die in Norddeutschland sonst üblichen Orgeln mit ihren Blei- und Holzpfeifen klingen heller, schärfer als diese.

Register zu ziehen, das heißt, einen der massiven, exakt gearbeiteten Holzquader aus der Orgelfront herauszuziehen und damit die Luft unter einen bestimmten Satz Orgelpfeifen zu leiten. Mit jedem Tasten- oder Pedaldruck setzt dann die Kantorin den sensiblen, aber hochpräzis abgestimmten „hängenden“ Mechanismus in Gang: über waagerechte, senkrechte und winklige Stäbchen aus uraltabgelagertem Holz wird ein Ventil unter der zugehörigen Pfeife geöffnet, der Ton geblasen, in der Tonfarbe der Flöte, des Horns, der Trompete. Oder, noch komplizierter, als Mix, als Zusammenspiel von fünf Einzeltönen pro Note.

Das Holz oder Metall muß hier in Bremen kaum noch zurechtgearbeitet werden. Daniel Kern: „Das muß passen.“ Ein kleines Wunder, denn mit tausenden von Einzelteilen kam die Orgel aus Straßburg per LKW Mitte November in Bremen an, mit fünf Fachleuten zur ersten Montage; jede Pfeife in Berge von Papier eingewickelt.

Die Luft steht kräftig unter sämtlichen Pfeifen, in eichernen „Windladen“. Ein Druck auf die Tasten aus feinstem Ebenholz (schwarz) oder poliertem Ochsenknochen (weiß), und die feine Mechanik spricht sofort an: „Wie schnell die Zungen in den Pfeifen ansprechen! Was für schnelle Läufe möglich sind!“ freut sich die Kantorin.

So kommt es, daß nicht nur barocke und frühromantische Musik besonders gut

hierhin bitte die

Orgelansicht von

schräg unten

Die funkelneue Orgel von St. Hedwig. Hier sehen Sie die 56 Pfeifen des Montre-Registers, den sogenannten Orgelprospekt. Dahinter verbergen sich 1000 andere, eine jede einzelne aus einer Zinnlegierung gegossen. Links ein Blick ins Innere des Pfeifenwaldes.Fotos: Klaus Wolschner

spielbar ist, sondern gerade auch moderne Stücke. Was für ein Graus waren dagegen die Orgelbiester aus den fortschrittlichen 60er Jahren! Da wurden die Ventile klackklack mit Elektro-Magneten geöffnet, die Pfeifen richtig aufgerissen.

Mindestens 300.000 Mark, eher mehr, wird die neue Orgel kosten. Einen kleinen Teil übernimmt die Amtskirche, das meiste kommt durch eine mehrjährige Finanz-Zeichnungs-Aktion in der Gemeinde zustande: Fast 40 Familien überwiesen monatlich oder jährlich Geldbeträge, bis die Kasse voll war.

St. Hedwig ist eine moderne Gemeinde. Das sieht man nicht nur am interessant gebrochenen Oval des Kirchenschiffs: Die Orgel wurde schlichtweg auf dem allerheiligsten Platz aufgebaut - hinter dem Altar, so daß sich der

Fast wie von Silbermann - einmalig in Norddeutschland

Priester die Aufmerksamkeit mit der Kantorin und manchmal mit dem Chor teilen muß. „Das ist klanglich einfach der beste Punkt“, findet Martina Kürschner, die sowieso davon überzeugt ist, daß ihre Orgel „die tollste Bremens“ ist. Besser als die im Dom? „Ja, mit Abstand!“

Zum ersten Mal hat es Orgelbauer Kern in Bremen erlebt, daß eine Orgel zur Einweihung für die Gemeinde zum Gucken geöffnet, die

Die Luft steht in Windläden unter allen Pfeifen. Ein Druck auf die Tasten aus geschnitztem Ochsenknochen (weiß) oder Ebenholz (schwarz), und die feine Mechanik spricht sofort an

Register, für Kürscher „alles lauter Einzelpersönlichkeiten“, vorgeführt wurde: „Orgel, das heißt nicht nur sakraler Silbersound für Filmhochzeiten, das ist ein derart konzertantes, farbenreiches Ensemble-Instrument!“ Susanne Paas