Shalömchen, hallöchen

■ Sind die Berliner niedlich geworden?

Tachchen!« brüllt der Nachbar seit neuestem, als ob er im Lotto gewonnen hätte. Das ist der, müssen Sie wissen, der sonst immer »Morjn« in seinen leicht angegrauten Bart gemurmelt hat, und da wußte man dann, der Mann ist extrem guter Laune. Und die Frau Hillerich, die Zeitungen, Zigaretten, lila Eddings, Hanuta und seit Tagen natürlich jede Menge Weihnachtsmänner, Geschenkpapier und goldene Schleifchen verkauft, die sagt in letzter Zeit dauernd »Tschüßchen«. Gestern hat's dann auch den Postmann an Schalter zwei erwischt. Nachdem er schwungvoll der Hans-Albers- Marke zu einer Mark, die ich jetzt immer kleben lasse, den Stempel verpaßt hatte, hauchte er ohne Zögern und vernehmlich ein »Tschüssi. Frohes Fest wünsch ick Ihnen.«

Sind die Berliner niedlich geworden, oder was? Seit einiger Zeit läßt sich bei ihnen nämlich ein gewisser Hang zu den Niederungen des Diminutivischen feststellen, ein Reich, das man bisher fest in den Händen der Schwaben glaubte; das Ganze kommt zwar gekoppelt mit einer Portion guter Laune daher, und zwischen zweitem Advent und 26. Dezember 20 Uhr läßt sich diese Seelenverfassung zugegebenermaßen auch nur schwer vom traditionellen Weihnachtsfrohsinn unterscheiden; bei genauerem Hinhören entpuppt sich die aufgeräumte Stimmung jedoch als Zweckoptimismus.

Verständlicherweise, sagt Frau Hillerich, wo es doch hier in Berlin so rapide bergab geht: die Mieten steigen, Tausende von Politikern befinden sich im Anmarsch, das Feindbild ist demontiert, die Berlinzulage gestrichen, Raider [der Pausen- Schreck! d. säzzer] heißt jetzt Twix, [Twix dir einen? d. säzzer], die Theater sind dauernd halbleer — und um wenigstens noch bis Olympia bei Stimmung zu bleiben, tun jetzt alle so, als ob gerade einer um die Ecke Freiflüge nach Gran Canaria verteilt hätte.

Um uns herum, sagt sie, ist ja mit einem Schlag alles so groß geworden und keiner weiß mehr so richtig, wo nun was aufhört und was anderes anfängt, und jetzt ist man ja schneller in Königs Wusterhausen als in Mallorca, was doch früher umgekehrt war, die Engländer und Franzosen klappern angeblich schon wieder mit den Zähnen wegen den Deutschen, der kleine Sony-Mann kommt persönlich zum Potsdamer-Platz-Gucken und fuchelt mit dem Zeigefinger, und überall werden so viele krumme Dinger unter die jeweiligen Teppiche gekehrt, daß der 'Spiegel‘ bis zum Jahr 2010 Skandal-Serien fahren kann — weil das, kurz gesagt, alles zuviel ist für Max Marotzke, wo er sich doch vor drei Jahren seine Laube an der Mauer so gemütlich eingerichtet hatte, mit Gasetagenheizung und Dauerweihnachtsblinken an allen Fenstern, und jetzt ist da plötzlich Bernau am Horizont aufgetaucht, also deshalb machen die Berliner nun eben auf 'ne Nummer kleiner. Geduckt hocken sie wieder in den Kellern, den verbalen diesmal, und warten darauf, daß die Rauchschwaden sich verziehen, die heillose Aufregung, das andauernde Gezapple und Gefuchtle vor lauter laß mich auch mit sich wieder legt. Und wenn die Nervösen dann zwischen Werder und Hoppegarten alles breitgetrampelt haben und ihre Herzkranzgefäße zur Pflege nach Kitzbühl, Rügen oder Karlsbad tragen, so etwa 2005, dann wird der Postfritze seine 15-Jahre-Wiedervereinigungs-Marke zu zwei Mark sechzig für den einfachen Brief bestimmt wieder wortlos durch den Schlitz schieben. Möglicherweise ringt er sich aber dann doch an Weihnachten wieder ein »Frohes Fest« ab, wer weiß. Günther Grosser