Der Elch vom Hansaplatz

■ Von prähistorischen Funden zu postmodernen Kunden

In seinem kritischen Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit spürt Walter Benjamin den Elch am Ursprung aller Künste auf. »Die künstlerische Produktion beginnt mit Gebilden, die im Dienste des Kults stehen. Das Elentier, das der Mensch der Steinzeit an den Wänden seiner Höhle abbildet, ist ein Zauberinstrument.« Benjamin zufolge strahlt das Geweih der magischen Elche die authentische Aura des Kunstwerkes aus. Bedenkt man, daß Benjamin Mitglied der Frankfurter Schule war, nimmt seine Urtheorie zur Kunstkritik nicht weiter Wunder, da eines der heftigst umstrittenen Theoreme der neuen Frankfurter Adepten lautet: »Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche!«

Mit der Ausstellung des Tiergartener Heimatmuseums Der Elch vom Hansaplatz ist der Benjaminsche Kultwert zurückgekehrt in die deutsche Kulturlandschaft. Berlin hat zwar keine Höhlenzeichnungen à la Lascaux zu bieten, dafür jedoch die Modellpuppe für eine jener Strichzeichnungen unserer Vorväter, nämlich das komplette Skelett eines Elches aus dem Berliner Urstromtal. Beim Bau einer unserer neuzeitlichen Zivilisations-Höhlen, sprich U- Bahn-Stationen, schaufelten die emsigen BVGler 1956 beim Bau des Bahnhofes Hansaplatz die enormen Geweihschaufeln unseres kapitalen Freundes frei. Die Hobbyarchäologen alarmierten die Wissenschaftler aus dem Museum für Vor- und Frühgeschichte, und gemeinsam bargen sie den seltenen knöchernen Schatz. Zum Beinhaus wurde dem Elch vom Hansaplatz erwähntes Museum, wo er noch heute in einer eigens für ihn eingerichteten Spiegelecke als Paradestück protzt. Er hat sich hier so gut eingelebt, daß er auch wiederholten Bitten der Tiergartener Heimatkundler zu einem dortigen Gastauftritt nicht nachgab.

Während der 10.000jährige prähistorische Hanseate nur mit seinen Knochen klappern kann, erfahren wir aus klassischen Quellen über Begegnungen seiner Enkel mit den römischen Imperatoren im Teutoburger Wald. Cäsar kam, sah und war überwältigt vom Anblick des größten aller Hirsche in Germanien und hatte vor den Iden des März nichts Eiligeres zu tun, als »die erste sichere und ausführliche Kunde über diesen riesenhaften Fabelhirsch« aufzuzeichnen. Dem Paganismus frönend, verehrten die alten Germanen derweil den Elch als Gottheit oder, wie Erasmus Stella schrieb, als Boten der Götter für himmlische Übermittlungen. Man kann vermuten, daß sie die 14- oder gar 24-Ender als bronzezeitliche Frühformen der Frequenzmodulatoren zum Empfang von Kurzwellenprogrammen aus Walhalla schätzten.

Betrachtet man das ewig breite Lächeln unseres Honigkuchen-Elches, fällt es schwer zu glauben, daß das Mittelalter aus dem Elch ein buchstäblich fallsüchtiges und ohnmächtiges »Elend«-Tier machte. Der sogenannte deutsche Plinius, Konrad Gessner, schrieb 1550: »Ist sonst ein wohl geplagtes und mit dem rechten Namen zu nennen, ein elendes Tier, das täglich von den fallenden Suchtplagen niedergeworfen wird und davon nicht eher erledigt wird, denn es seine Klaue an dem rechten Hinterlauf in das linke Ohr steckt.« Es konnte nicht eruiert werden, wie Veterinäre heute jene elchischen Krankheitsbilder deuten würden. Damals jedenfalls wurden Hysterie, Epilepsie und weitere 600 Plagen durch geriebene Elchshufe, aufgelöst in Wein, kuriert.

Letzteres Heilmittel führte Groucho Marx höchstwahrscheinlich in Animal Crackers zu seinen Spekulationen über die Freuden des »Elkoholismus«. Der Chefkoch der Entensuppe bezieht sich hier allerdings auf den amerikanischen »elk«, der auf Deutsch nur als Wapiti-Hirsch durchgeht. Der echte Elch heißt indianisch/englisch »moose«, denn er war lange vor den ersten Pilgern im Land unseres großen weißen Bruders Futter- und Haushaltsversorger, aber auch beschützendes Totem der Ureinwohner. Diese fundamentale Abhängigkeit des Indianers erzeugte eine kosmische Sicht der Welt mit heiligen Elchen im Zentrum von Legenden und Mythen.

Viele Mythen erzählen von wunderbaren Transmutationen der Arten: »Es gab Zeiten, in denen Elche viel größer waren und nicht in den Wäldern lebten, sondern wie alle Hirsche aus dem Wasser kamen. Elch war einst Wal. Ein Wal strandete in einer seichten Bucht. Als das Meer hinaustrat und ihn zurückließ, kam er an Land als ein Elch.« Der Naturforscher Henry David Thoreau berichtete in seinem Buch The Maine Woods (1857) über viele solcher moose-tischen Erlebnisse, als er Mount Kineo (geformt wie eine liegende Elchkuh) und den Moosehead Lake (Elchkopf- See) erwanderte. Im Zuge der Landnahme des nordamerikanischen Kontinents durch die europäischen Kolonialisatoren wurde auf Indianer und Elche gleichermaßen Jagd gemacht. Während in sumpfigen, schwer zugänglichen Gebieten der USA und Kanadas noch zahlreiche mächtige Paarhufer leben, bedeuteten Jagdorgien deutscher Junker und der Fleischhunger des Ersten Weltkriegs für die letzten Elche Ostpreußens den beinahe völligen Garaus.

Bizarr liest sich in diesem Zusammenhang die Bemerkung Hermann Görings über »das rudelweise Herumlaufen der Juden« im Grunewald: »Wir werden also den Juden einen gewissen Waldteil zur Verfügung stellen und dafür sorgen, daß die verschiedenen Tiere, die den Juden verdammt ähnlich sehen — der Elch hat ja auch so eine gebogene Nase — dahinkommen und sich einbürgern.« An dieser Stelle lachte sich Göring halb tot.

Nach all jenen Fällen von Ausrottung und menschlicher Grausamkeit, ist gut zu hören, daß die neue mitteleuropäische Gerüchteküche dieser Tage bei wiedergeöffneten Grenzen nomadisierende Elche zwischen dem Böhmischen und dem Bayerischen Wald ortet. Go West, Young Elk! Für diejenigen, die das Eintreffen der ersten pelzigen Einwanderer in der Streusandbüchse nicht erwarten können, gibt es einige höchst empfehlenswerte Elchmale in unserer Großstadt — alle mit dem »Elch-Taxi« (Tel.: 2155937) oder im Trott zu erreichen: Der neue Eingang zum Zoologischen Garten West blendet durch erstaunliche steinerne Elchkonterfeis. Im Zoo selbst sucht man jedoch vergebens nach unserem Helden — Elche gehören zu den seltenen Spezies, die sich nicht einsperren und zur Schau stellen lassen. Was wenige wissen — das Jagdschloß Grunewald zeigt nicht nur einige groteske Cranachs, sondern auch eine martialische Waffensammlung. Die Elchopfer der kurfürstlichen Schießwut hängen nun ausgestopft in der Remise. — Kein Ausflug zum Müggelsee wäre perfekt ohne dem Restaurant »Neu- Helgoland« einen Besuch abzustatten. Hier inspiziert Ur-Opa Elchkopf bereits seit vier Generationen jeden Bissen der Gäste.

Die präparierten Köpfe beiseitelassend, wird man gewahr, daß sich der Elch in den letzten Jahren eine führende Position in der Pop-Kultur gesichert hat. In den USA spülen TV- Süchtige die unglaublichen Zeichentrickabenteuer von »Bullwinkle J. Moose« oder die aberwitzigen Plots der »Addams Family« (bei uns auf Sat.1) mit einer Flasche des kanadischen Lager »Moosehead Beer« hinunter. Die Dialoge jener Gruselkomödianten werden von den rotierenden Geweihhörnern ihres possierlichen Kamin-Elchs kommentiert. Auch wird der gemeine deutsche Gartenzwerg heuer nicht nur meuchlings erdolcht, sondern von kultivierten Menschen durch nibelungische, elchbehörnte Vertreter hinterhöfischer Zauberwelten ausgetauscht.

In den letzten Jahrzehnten erhielt der Elch die höheren (Ge-)Weihen der Kunst durch die Arbeit von Joseph Beuys. Zur Zeit der Wiederauferstehung des Elches vom Hansaplatz zollte Beuys dem Königshirsch seinen Tribut in zarten, lyrischen Zeichnungen. In Studien wie Wandernder Elch und Runenstein (1957), Elch mit Sonne (1957) oder Toter Mann zwischen Elchskeletten (1956) scheint Beuys gar direkt von den sensationellen Funden in Moabit inspiriert gewesen zu sein. Im Enthüllen der seelischen und spirituellen Energien des Elches schließt Beuys den Kreis totemistischer Kräfte um diese Kult-Figur. Das Elentier von Lascaux trottet mit Elan in die Postmoderne. El K. Viola

Morse Moose is calling you to Der Elch vom Hansaplatz — Archäologische Funde aus dem Bezirk Tiergarten , Ausstellung bis zum 15. Januar 1992 im Heimatmuseum Tiergarten, Zwinglistraße 2, Moabit, Katalog 10 DM

Zitate aus:

H.D. Thoreau, The Maine Woods , Boston 1864

Samuel Merrill, The Moose Book , New York 1916

Dr. Kurt Floericke, Wisent und Elch. Zwei urige Recken , Stuttgart 1930

Moose Malloy, Farewell, My Lovely , Bay City 1940

Heinrich Fraenkel u. Roger Manvell, Goebbels. Der Verführer , München 1989