Dürre Leiber — große Spende

Karitative Organisationen werben mit Bildern des größten Hungerelends/ „Klinische Unterernährung“ erzeugt irreversible Schäden/ Teufelskreis von Hunger und Infektionskrankheiten führt oft zum Tod/ Die Lage in Osteuropa bisher nicht untersucht  ■ Von Dorothea Hahn

Aufgedunsen muß er sein, der Hungerbauch, dürr die Beinchen und riesig die Augen, aus denen das ausgemergelte Kind in die Kamera blickt. Schließlich soll das Bild die Leser vom Sofa weglocken und zur Bank treiben, damit sie dort Schecks ausfüllen und an die Hungernden dieser Welt verschicken. Hinter dem Trick mit dem Foto steckt eine Faustregel, die Hilfsorganisationen aller Art kennen und beherzigen: Je besser das Elend visualisiert wird desto höher die Spende.

Doch für das betroffene Kind gibt es nur noch wenig Chancen, wenn es schon Hungerödeme am Bauch hat, sagt der Mediziner und Epidemiologe Frank-Peter Schelp von der Freien Universität Berlin. Helfen könnte ihm dann allenfalls noch eine individuelle und höchst aufwendige stationäre Betreuung in einer Klinik, mit intravenöser Ernährung. Daran ist in den ärmsten Regionen aber kaum zu denken. Benannt ist diese krasse Form der Unterernährung, die bei starkem Proteinmangel eintritt, nach einem Wort aus Ghana: „Kwashiokor“ heißt sowohl „das Kind mit den roten Haaren“ wie „das erstgeborene Kind“. Symptom von „Kwashiokor“ ist die Rötlichfärbung des Haars bei Kleinkindern, die abgestillt werden, wenn das nächste Baby kommt, und für die nicht genügend andere Nahrung vorhanden ist. Neben „Kwashiokor“ kennen die Mediziner noch eine zweite Form der „klinischen Unterernährung“: „Marasmus“. Als Folge von Eiweiß- und Kaloriendefiziten beginnt dabei der Körper, die eigenen Reserven anzugreifen. Damit der Organismus trotz mangelhafter Nahrungszufuhr weiter funktionieren kann, werden die Fett- und Eiweißvorräte umgeschichtet. Das kann lange gutgehen. Aber wenn der Prozeß nicht aufgehalten wird, führt auch der „Marasmus“ zum Tod, weiß der Berliner Mediziner, der in zahlreichen Ländern der Dritten Welt, darunter Uganda und Thailand, die Folgen der Unterernährung untersucht hat.

Doch obwohl die Schreckensbilder seit Jahren um die Welt gehen, sind „Kwashiokor“ und „Marasmus“ nur wenig erforscht. So ist auch unklar, warum bei Unterernährung mal die eine, mal die andere Form auftritt. Die meisten Untersuchungen konzentrieren sich auf Kinder in ihren ersten 60 Lebensmonaten, weil Hunger da die größten Schäden anrichten kann. Fest steht, daß hungergeschwächte Körper besonders anfällig für Krankheiten sind, besonders, wenn zur Unterernährung auch noch Vitamin-Mangel kommt: So kann Skorbut (Vitamin- C-Mangel) ebenso tödlich enden wie Vitamin-A-Mangel (Xerophtalmia), der zunächst zu Blindheit führt; Vitamin-B1-Mangel, der die Krankheit Beriberi auslöst, führt oft zu Herzversagen.

Fest steht auch, daß Unterernährung Auswirkungen auf die geistige Entwicklung hat. „Es kann Retardierungen geben, die nicht mehr aufzuhalten sind“, sagt Schelp. Dritte- Welt-Hilfsorganisationen kennen den Zusammenhang zwischen Nahrungsmenge, Krankheitsrate und Sterblichkeit aus ihrer Arbeit in Flüchtlingslagern. Der US-Wissenschaftler Michael Toole belegte im März dieses Jahres auf einem Symposium des „Zentrums für Flüchtlingsstudien“ in Oxford, wie in einem Lager in Thailand die Sterblichkeitsrate sofort sank, als die Nahrungsmittelzufuhr auf über 2.000 Kalorien erhöht wurde.

Mitarbeiter der Hilfsorganisation „Medecins sans Frontières“ erklären die hohe Sterblichkeit der Unter- Fünfjährigen in einem Lager in Malawi vor allem damit, daß bei der Nahrungsmittelverteilung nicht einmal die vom UNHCR (Hoher Kommissar der UNO für Flüchtlinge) festgesetzte Mindesttagesmenge von 1.800 Kalorien eingehalten wird. Der Mediziner Schelp hält die „Extremformen“ der „klinischen Unterernährung“ jedoch nur für einen Teil des Problems, wenn auch den spektakulärsten. Vor allem in den ärmsten Entwicklungsländern und Flüchtlingslagern spielten diese „Extremformen“ eine Rolle. Weltweit seien schätzungsweise 1,5 bis zwei Prozent der Kinder im Vorschulalter „klinisch unterernährt“. Statistisch wesentlich bedeutender sind nach Ansicht der Experten die „subklinischen Formen“ der Unterernährung, die in manchen Weltgegenden riesige Bevölkerungsteile betreffen. Als Folge von Unterernährung setzt dabei das Wachstum aus. Mal stellt sich ein ungenügendes Verhältnis von Gewicht zu Körpergröße ein, mal — und das ist der entschieden häufigere Fall — bleibt das Längenwachstum zurück. Nach einer Statistik der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 1985 sind in Afrika rund 38Prozent der Bevölkerung als Folge von Unterernährung zu kleinwüchsig, in Südostasien sollen es sogar 48Prozent der Menschen sein, für den östlichen Mittelmeerraum hat die WHO bei 26Prozent der Bevölkerung ein eingeschränktes Längenwachstum ermittelt. Weltweit sind nach diesen WHO-Schätzungen über eine Milliarde Menschen durch Unterernährung in ihrer körperlichen Entwicklung betroffen.

Entwicklungshelfer nutzen diese Erkenntnis: Wenn ihre Ressourcen knapp, die Not aber groß ist, vermessen sie schon mal die Oberarmknochen der Kinder. Die Kinder mit dem vergleichsweise kleinsten Oberarmumfang kommen so als erste in den Genuß der Hilfe.

Die Frage „Ab wann ist ein Mensch unterernährt?“ ist damit aber noch keineswegs beantwortet. Die Experten streiten darüber, ob die Wachstumsblockade bedeutet, daß der Körper sich adaptiert, um ein optimales Verhältnis zwischen Gewicht und Wachstum zu haben oder ob es per se Ausdruck von Unterernährung ist. In den USA ist die „subklinische Unterernährung“ bereits seit längerem feststellbar, inzwischen hält sie nach Expertenmeinung auch in Europa Einzug, speziell im Osten. Allerdings fehlen dort exakte Untersuchungen noch immer — trotz der sich häufenden Meldungen über bevorstehende Hungerkatatrophen. Schelp schätzt die Lage realistisch ein: Bis jemand die Frage auch dort erforscht, wird wohl noch eine Weile vergehen. „Da müssen wir erst Bilder von Verhungernden sehen.“