Ein seltsam verhaltener Dialog

Gelehrte aus Kairo diskutierten in Berlin über das Verhältnis von Islam und moderner Gesellschaft  ■ Von Beate Seel

Gibt es den Islam überhaupt? Läßt sich der Koran mit einem Gemischtwarenladen vergleichen? „Gesichter des Islam“ — bereits das Thema der dreitägigen Konferenz vergangene Woche im Berliner Haus der Kulturen der Welt — verwies darauf, daß es nicht um eine Lesart, eine Interpretation dieser Religion gehen sollte, die nur zu häufig mit Fundamentalismus, Fanatismus oder Terrorismus gleichgesetzt wird. Die eingeladenen Gelehrten, Philosophen und Sozialwissenschaftler aus Kairo legten vor rund zweihundert Zuhörern aus dem ganzen Bundesgebiet ihre durchaus unterschiedlichen Positionen zum Verhältnis von Islam und moderner Gesellschaft dar. Auch Vertreter der explizit weltlichen Strömung fehlten nicht, die eine Lösung der aktuellen Probleme ihrer Gesellschaften außerhalb des religiösen Rahmens suchen.

Der Eindruck eines Gemischtwarenladens konnte tatsächlich leicht entstehen, untermauerten doch die meisten Referenten ihren jeweiligen Standpunkt mit entsprechenden Zitaten aus dem Koran. Auch vom „wahren“ und „verfälschten“ Islam war häufig die Rede.

So konterte Abdul-Wafa Al Taftazani, Vorsitzender des Rates der Sheikhs der Sufi-Orden Ägyptens und Professor für islamische Philosophie, die Kritik an seiner Strömung, sie sei zu passiv, zu unpolitisch, mit der Bemerkung, daß es eine kleine Minderheit gebe, „die den wahren Islam nicht wirklich verstanden“ habe. Mahmoud Zakzouk, Dekan und Professor an der Fakultät für Islamische Theologie der Azhar- Universität, warf den Fundamentalisten vor, sie hätten „die Lehre verfälscht“. „Willkür in den Auslegungen“, „falsche Interpretationen“, die dem Islam großen Schaden zugefügt hätten, machte auch Zeinab Afifi aus, Dozentin für Islamische Philosophie an der Universität Al Munafieh. Sie trat nachdrücklich dafür ein, daß die Rechte der islamischen Frau einzig und allein im Rückgriff auf die religiösen Texte verwirklicht werden könnten, die die Frau auf eine besondere, abgesicherte Stellung in der Gesellschaft „erhoben“ hätten. Das Publikum nahm es fast unwidersprochen hin, Säkularisten waren im Zuschauerraum offenbar dünn gesät.

Der abwertende Begriff des Gemischtwarenladens ließ sich freilich auch positiv wenden, nämlich als Ausdruck eines „theologischen“ Pluralismus, eines lebhaften inner- islamischen Meinungsstreits. Wie allen Weltanschauungen ist auch dem Islam die Kontroverse um die „richtige“ Interpretation alles andere als fremd. So zog sich das Verhältnis zu den Texten wie ein roter Faden durch alle Vorträge, das Verhältnis also zum Koran, der Urkunde der Offenbarung, und zur Sunna, der Urkunde der islamischen Tradition, die den vorbildlichen Weg des Propheten Mohammed und die authentische Interpretation der Offenbarung überliefert. Das Spannungsverhältnis zwischen kulturellem Erbe und „Modernität“, dem zentralen Problem der arabisch-islamischen Gesellschaften, ist innerhalb des islamischen Diskurses ohne den Bezug auf Koran und Sunna nicht zu diskutieren. Denn je nachdem, wie eng man sich bei der Suche nach Lösungen an die „ursprünglichen“, „reinen“ Texte anlehnt oder welchen Stellenwert man ihrer geschichtlichen Bedingtheit einräumt, fallen die Schlußfolgerungen unterschiedlich aus.

Zazouk und Afifi insistierten beispielsweise darauf, daß an den Grundlagen des Glaubens, wie er in den Texten dargelegt sei, nicht zu rütteln sei, daß der Islam aber darüber hinaus Richtlinien für die Lösung weltlicher Probleme biete, die durch menschliche Anstrengung, den Einsatz der Ratio, gefunden werden müßten. In diesem Sinne können sich beide zu den gemäßigten Reformern zählen, obwohl zumindest ein Teil der Zuhörerschaft sie sicher eher ins traditionelle, „fundamentalistische“ Lager eingeordnet hätte.

Einen Kontrapunkt setzte Fouad Zakaria, bis zur irakischen Invasion Professor der Philosophie an der Universität Kuwait, in seinem Vortrag über „Die Historizität von Sharia- und Koraninterpretationen“. Zakaria setzte sich für eine Vielfalt der Interpretationen ein und betonte ihre Einordnung in den geschichtlichen Kontext. Der Text könne sich nicht selbst anwenden und sei somit auf das Medium Mensch angewiesen. Er wandte sich gegen eine Lesart, die 1.400 Jahre Geschichte überspringt, die Realität ignoriert und sich auf die Ursprünglichkeit der Texte bezieht, eine Lesart, derzufolge alles spätere nicht der „wahre Islam“ ist. Zakaria kritisierte auch einen Diskurs, der die heiligen Texte mit der jeweiligen Auffassung von der westlichen Zivilisation konfrontiert, anstatt entweder zwei Texte zu vergleichen oder aber zwei Zivilisationen: In diesem Falle müsse man die Praxis in der islamischen Welt mit der der westlichen Welt vergleichen.

Wie kontrovers die Debatte unter den islamischen Gelehrten selbst geführt wird, zeigte die Tatsache, daß Vertreter eines harten politischen Fundamentalismus fehlten: Ein eingeladener Sheikh, der in der Vergangenheit den Moslembrüdern angehörte, wollte mit Zakaria gar nicht erst an einem Tisch sitzen. Auch an einem anderen Referenten, dem Vorsitzenden des Philosophischen Fachbereichs der Universität Kairo, Hassan Hanafi, hätte dieser Sheikh wohl wenig Freude gehabt. Hanafi rechnet sich der „islamischen Linken“ zu und schlachtete gleich mehrere heilige Kühe, als er forderte, die sakrosankten Texte neu nach Themen zu strukturieren, die islamische Rechtswissenschaft neu zu schreiben und heute, in einer Periode des Personenkultes, in den arabischen Gesellschaften die Konzentration auf die Person des Propheten infrage zu stellen.

Ähnlich wie bei Zakaria stand auch bei ihm die zeitliche Distanz zu den Texten im Mittelpunkt.

Taugen die Texte also zur Bewältigung der Probleme, die sich den arabisch-islamischen Ländern heute stellen? Das blieb eine Glaubensfrage. Bei der Diskussion darüber, ob es „islamische Lösungen“ für die Herausforderungen der Gegenwart gebe, ging es angesichts des heterogen zusammengesetzten Publikums munter zwischen Fragen zu den Vorträgen, der wissenschaftlichen Ebene, der konkreten Politik und der „Sicht auf die Sicht“ hin und her, wie es Josef van Ess, Islamwissenschaftler aus Tübingen, formulierte: der Beurteilung der westlichen Sicht auf den Islam durch die Referenten aus Kairo. Damit setzte sich jene Vermischung der Ebenen durch, die Zakaria in seinem Beitrag kritisiert hatte.

Bemerkenswert war, daß sich der deutsche Teil der Zuhörerschaft in der Debatte auffällig zurückhielt; es waren vor allem Iraner und Araber, die aus dem Publikum zur Diskussion beitrugen. Und trotz dieser Zurückhaltung und Höflichkeit — selbst überlange Beiträge mit zahlreichen Wiederholungen ließ man schweigend über sich ergehen — beklagten sich einige Referenten darüber, daß der Islam auf die Anklagebank gezerrt werde. Das lag zum Teil an der Moderation von Michael Lüders, einem Mitarbeiter des Südwestfunks, der selbst eine Gegenposition zu Afifi und Hanfi aufbaute und die Debatte, zum Unmut von Publikum und Referenten, stark dominierte. Allerdings stellte er zu Recht infrage, ob die Forderung nach einer besseren Ausbildung für Frauen den Bezug auf die Religion benötige. Und gegenüber Hanafi, dem er vorwarf, zu predigen anstatt zu analysieren, meldete er Zweifel an, ob die technologische Überlegenheit des Westens und Japans mit einer islamischen Perspektive überwunden werden kann. Den Kern der Debatte brachte Lüders gegenüber den Referenten so auf den Punkt: Es müsse möglich sein, eine Kritik an den islamischen Positionen zu äußern, ohne daß man gleich als antiislamisch und prowestlich abgestempelt werde; die Kritik müsse in beide Richtungen formuliert werden können.

Der Dialog, zu dem die Veranstalter vom Haus der Kulturen der Welt mit dieser Konferenz beitragen wollten, erwies sich als nicht eben einfach. Es blieb ein unguter Nachgeschmack, der in erster Linie dem Verhalten des Publikums geschuldet war. Es schien, als trauten sich die meisten gar nicht erst, an die Ideen der Aufklärung anzuknüpfen und ihre Meinung kontrovers und offen zu vertreten. Damit wurden die Referenten, die die Debatte als innerislamische wie auch in Auseinandersetzung mit den Säkularisten, ja sehr wohl kennen, als Gesprächs- und Diskussionspartner nicht ernst genug genommen.

Bezeichnend in diesem Zusammenhang war der Beitrag einer Iranerin, die Afifi fragte, welchen Platz denn andersdenkende Frauen in ihrer islamischen Gesellschaft hätten, Frauen, die nicht die Priorität auf das Familienleben legen wollten. In dem starken Beifall, den sie für ihre Frage erhielt, schien geradezu Erleichterung mitzuschwingen, daß jemand es wagte, so etwas anzusprechen.

Erhellend war auch die Antwort Afifis auf die Frage der Iranerin: Es gebe keine Gesellschaft ohne das Böse und die Sünde. Hier wurde hinter den schönen Worten von einem Islam als Religion der Liebe, Toleranz und Zusammenarbeit, den gerade Afifi predigte, wenigstens einmal das Gesicht einer intoleranten Gesellschaft erkennbar.

Mag sein, daß es das Fremde war, der immer wiederkehrende Bezug auf die religiösen Texte, das diesen Dialog so seltsam verhalten machte. Mag sein, daß auch das schlechte Gewissen der Westler gegenüber der „dritten Welt“ mitschwang. Es wird wohl noch eine ganze Reihe solcher Konferenzen nötig sein, ehe es zu einem offenen und fruchtbaren Streit kommen kann.