Armenien will neuer Union beitreten

Wechselseitige Geiselnahmen im armenisch-aserbaidschanischen Konflikt/ Der elende Alltag  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Vorzeitig nach Hause eilen mußte am Montag wegen eines Geiseldramas der armenische Präsident Lewon Ter Petrossjan, der erst am Vortag mit der russischen Führungsspitze in Moskau Gespräche aufgenommen hatte. Danach erscheint bereits heute ein Anschluß Armeniens an die am 8. Dezember in Minsk von Rußland, der Ukraine und Belorußland gegründete „Gemeinschaft Souveräner Staaten“ so gut wie sicher. Eine entsprechende Empfehlung hatte Ende letzter Woche der Oberste Sowjet Armeniens verabschiedet.

Unterdessen verschlechtern sich die Lebensbedingungen in der Hochkaukasus-Republik täglich. Das gleiche gilt für die auf aserbaidschanischem Gebiet gelegene vorwiegend von Armeniern besiedelte Enklave Berg-Karabach, um die sich ein Krieg zwischen den beiden Nachbarrepubliken entwickelt hat. Dort sprachen sich am 10. Dezember 99 Prozent der Teilnehmer an einem in ganz Aserbaidschan durchgeführten Referendum über den zukünftigen Status des Landes für die Gründung einer „Unabhängigen Republik Berg- Karabach aus“.

Wie das Hornberger Schießen endete gestern (Dienstag) das Drama der Entführung zweier Eisenbahnzüge, das in der armenischen Stadt Megri an der Grenze zur aserbaidschanischen Grenzprovinz Nachitschewan begann. Züge der Strecke Baku-Nachitschewan befahren diesen Abschnitt erst seit kurzem wieder, nachdem sie von den örtlichen Behörden in Megri eine Sicherheitsgarantie erhalten hatten. Als jedoch am Sonntag früh aserbaidschanische Kämpfer in Megri drei Geiseln nahmen — zwei Armenier und eine Russin —, stoppte und belagerte eine aufgebrachte Menge um etwa 11.30 Uhr vormittags diesen mit etwa hundert Passagieren besetzten Zug. Die aserbaidschanische Seite zögerte nicht, ihrerseits in der Region Nachitschewan, wo ebenfalls noch nicht lange wieder armenische Passagierzüge verkehren, einen Zug zu stoppen und dessen Passagiere als Geiseln zu nehmen.

Die schnelle Reaktion der armenischen Regierung verhinderte eine Eskalation der Ereignisse. Ohne Gegenstimmen verurteilte der Oberste Sowjet Armeniens am Montag das Verhalten der Bevölkerung von Megri als „verantwortungslosen Schritt“ und beschloß die Verhängung des Ausnahmezustandes sowie einer Ausgangssperre von 22 Uhr abends bis 6 Uhr früh in der Stadt. Stellvertreter des Innen- und Verteidigungsministers der Republik eilten zur Stelle, um zu vermitteln. Als erstes tauchten die drei am Sonntag verschwundenen Geiseln wieder auf, danach wurden am Dienstag mittag die blockierten Züge mit allen Passagieren an Bord in beide Richtungen wieder in Marsch gesetzt. Es verblieben auf beiden Seiten je sieben Personen Zugpersonal als „Restgeiseln“, über deren Freilassung man sich aber bei Redaktionsschluß bereits geeinigt hatte.

Inzwischen nähern sich die Lebensbedingungen in großen Teilen Armeniens aufgrund der bürgerkriegsbedingten Blockade denen des Höhlenzeitalters. Während in Jerewan in den einzelnen Stadtvierteln noch periodisch Strom eingeschaltet wird, garen die Bewohner der Provinzstädte ihre Mahlzeiten auf Lagerfeuern. In den Erdbebengebieten können Wöchnerinnen nur bis zu zwei Stunden nach der Geburt in den Kliniken behalten werden, da sonst Unterkühlung der Kinder droht. Krankenhäuser im ganzen Lande können Patienten nur noch im Falle von akuter Lebensgefahr aufnehmen. In der Hauptstadt von Berg-Karabach, Stepanakert, stellte am 15.Dezember die Brotfabrik ihre Tätigkeit ein. Ein Drittel der Stadt ist ohne Trinkwasser. Am Wochenende befand sich die Stadt wieder unter Beschußs. Die beiden armenischen Dörfer Askeran und Chramort wurden am Sonntag innerhalb einer Stunde mit 32 Alazan-Raketen beschossen.

Zwanzig russische Deputierte, darunter der Historiker Juri Afanassjew, die zur Überwachung des Referendums nach Berg-Karabach gereist waren, bezeugen, daß die Durchführung mit den Normen des Völkerrechtes im Einklang stand.