Zu guter Letzt ins Paradies

■ Das diplomatische Gezerre um den ehemaligen DDR-Staats- und Parteichef hält an. Bonn appelliert nochmals eindringlich an die russische Führung, Honecker an Deutschland auszuliefern. Doch der sitzt nach...

Zu guter Letzt ins Paradies Das diplomatische Gezerre um den ehemaligen DDR-Staats- und Parteichef hält an. Bonn appelliert nochmals eindringlich an die russische Führung, Honecker an Deutschland auszuliefern. Doch der sitzt nach wie vor in der chilenischen Botschaft und wartet auf grünes Licht von Jelzin, um in den bereitstehenden Flieger nach Nordkorea zu steigen.

Glück im Unglück hat Erich Honecker zweifellos. Zwar ist ihm die DDR nach vierzig Jahren ruhmreicher Existenz zerronnen; doch bei dem Versuch, sich erst dem ostdeutschen Volkszorn, dann dessen eher schwächlichem Instrument, der bundesdeutschen Strafjustiz, zu entziehen, hat er, trotz aller Beschwerlichkeiten, eine glückliche Hand: die Herbstrevolution blieb friedlich und schickte — anders als in Rumänien — keinen Racheengel, der Lobetaler Unmut frustrierter Fähnchenschwenker von einst trieb ihn über Beelitz nach Moskau in die Obhut der Sowjets, und selbst Jelzins Rußland läßt ihn ziehen — nach Nordkorea. Dort kann sich der ehemalige Staatsratsvorsitzende sicher fühlen, vorerst — bis zur Wiedervereinigung eben.

Die bundesdeutsche Politprominenz hat seit Honeckers Abflug nach Moskau keine Gelegenheit verstreichen lassen, ihn zurückzufordern. Das erscheint, mit Blick nach Ostdeutschland, durchaus wählerwirksam, ein populäres Ansinnen, populärer jedenfalls als manche der einschneidenden Folgen der deutschen Einheit. Bedrohlich für Honecker und die bundesdeutschen Spitzenpolitiker wurde das Ganze erst, als es in den letzten Wochen wirklich danach aussah, als würde der Geschäftspartner von einst, bald nach Deutschland zurückkehren, um in einer Moabiter U-Haft-Zelle dem wohl spektakulärsten Strafprozeß der deutschen Rechtsgeschichte entgegenzusehen.

Man darf es Kohl, Brandt, Genscher oder Waigel durchaus wohlwollend unterstellen, daß ihnen das einsetzende Medienspektakel, die letzte journalistische Hetzjagd auf den gefeierten Staatsgast von einst, doch auch ein bißchen peinlich gewesen wäre. Der Honecker-Prozeß als populistische Konzession ans gesunde Volksempfinden wäre zugleich zu einer Inszenierung des neudeutschen Geschichtsbildes geraten, mit der man die Erinnerung an die langjährige deutsch-deutsche Kooperation endgültig hätte bannen können. Das alles auf dem Rücken eines einzelnen? Soviel hinterhältige Vergeßlichkeit, will man der bundesdeutschen Politelite, trotz mancher Indizien aus der jüngsten Zeit, dann doch nicht zutrauen.

Das gilt um so mehr, als das Risiko eines Prozesses gegen Honecker nicht nur in dem vieldiskutierten Problem einer rechtsstaatlich korrekten Aufarbeitung regierungskriminellen Verhaltens liegt; riskant für die Bonner Prominenz — und chancenreich für die historische Wahrheitsfindung — wäre es gewesen, wenn der Prozeß, gerade im Zuge eines individuellen Schuldnachweises auch das deutsch-deutsche Beziehungsgeflecht und dessen Bedeutung für die Schuldhaftigkeit des Angeklagten miteinbezogen hätte. Was den Verteidigern beim Mauerschützenprozeß nicht gelingen wird — Brandt, Kohl und Genscher im Zeugenstand, der Honeckerbesuch 1987, die De- facto-Anerkennung der DDR und ihres Grenzregimes als Beweismittel —, wäre im Prozeß gegen Honecker nicht so leicht von der Hand zu weisen gewesen. Das hätte Sinn gemacht, weil es zur Aufarbeitung der Unrechtsgeschichte ebenso beitragen würde wie die Verurteilung ihres höchsten Repräsentanten.

Die jedoch wäre, rechtsstaatlich korrekt, ohnehin nur schwer zu haben gewesen. Je länger die Diskussion über die Ahndung der DDR-Regierungskriminalität andauert, je skurriler die Erfahrungen — etwa aus dem Harry-Tisch-Prozeß — gerieten, desto zweifelhafter erschien auch die Chance, Honecker juristisch zur Verantwortung zu ziehen. Für ein rechtsstaatliches Urteil ist der individuelle Schuldnachweis auf der Grundlage des zur Tatzeit geltenden DDR-Strafrechtes unabdingbar. Ob die Unterschrift Honeckers unter einem Dokument des Nationalen Verteidigungsrates von 1974, das den Schußwaffengebrauch anordnet, für eine Verurteilung als „mittelbarer Täter“ oder wenigstens „Anstifter“ ausreicht, ist umstritten. Selbstverständlich waren auch nach DDR-Recht Tötungsdelikte strafbar; andererseits sanktioniert das Grenzgesetz von 1982 als letztes Mittel gegen „Grenzverletzer“ auch den Schußwaffengebrauch.

In diesem Gestrüpp haben sich unter der gleichlautenden Parole „Herausforderung des Rechtsstaates“ zwei entgegengesetzte Interpretationen entwickelt. Die einen sehen die Herausforderung darin, die rechtsstaatliche Einschränkung des Strafrechtes, seine streng verfassungskonforme Anwendung gerade auch dann durchzuhalten, wenn damit die Chance einer Verurteilung Honeckers geschmälert wird. Die Durchsetzung von Moral und Gerechtigkeit ist nicht Sache des Strafrechtes; seine rechtsstaatlich korrekte Anwendung ist oberstes Prinzip. Die andere Interpretation kommt dem verständlichen Gerechtigkeitsbedürfnis derjenigen entgegen, die nicht hinnehmen wollen, daß die Handlanger verurteilt werden, während die eigentlich Verantwortlichen ungestraft davonkommen. Sie stellt in Frage, daß auch die Spitzen eines Unrechtsregimes den ungeschmälerten Schutz des Rechtsstaates für sich beanspruchen dürfen. Die Herausforderung des Rechtsstaates besteht dann darin, Mittel und Wege für eine Verurteilung der DDR-Oberen auch jenseits des zur Tatzeit geltenden DDR-Rechtes zu finden. Hierzu sollte die von der DDR anerkannte Menschenrechtserklärung der UNO oder die KSZE-Schlußakte herangezogen werden. Ein Prozeß auf dieser Grundlage hätte jedoch schwerlich vor dem Berliner Landgericht, bestenfalls vor einer internationalen Institution stattfinden können.

Ob aufgrund des stumpfen, strafrechtlichen Instrumentariums oder einer Reise nach Nordkorea — die Öffentlichkeit wird sich damit abfinden müssen, daß sich Honecker seiner Strafe entzieht. Um so problematischer erscheint es, wenn nur die Handlanger des Regimes zur Verantwortung gezogen werden. Die leerbleibende Zelle in Moabit jedenfalls steht — ebenso wie die Aktenberge der Gauck-Behörde — für die Herausforderung an die Gesellschaft, jenseits des Strafrechtes Formen der Aufarbeitung des DDR-Unrechts zu entwickeln. Matthias Geis