SOMNAMBOULEVARD — REALITÄTS-MARKETING Von Micky Remann

Daß ich schlafe, während ich dies schreibe, hast du ja inzwischen spitzgekriegt, schön, aber läßt sich daraus folgern, daß du wach bist, während du es liest? Kneif dir getrost in den Arm, wenn du zweifelst, und tu es feste, aber beweist es dein Wachsein? Ehrlich gesagt ist der Somnamboulevard voll mit Leuten, die sich in die Traumarme kneifen und in voller Kenntnis, daß sie es träumend tun, „aua“ rufen.

Du wendest ein, die Traumwelt besitze keine verifizierbare Existenz? Quatsch, im Moment, da du träumst, ist nur die Traumwelt existent und sonst gar nichts. Gleichwohl sind wir nicht so vermessen, zu behaupten, deine harte Welt da draußen gebe es nicht, nur weil sie hier im Traum niemand empirisch nachweisen kann.

Der Umstand, daß ich nicht in Japan bin, beweist ja auch nicht, daß es Japan nicht gibt. Oder bin ich etwa doch in Japan? In der mich umgebenden Welt schließe ich jedenfalls aus dem Fehlen von Geishas, Yen und Hiragana-Zeichen, daß, wo immer ich auch sein mag, es wahrscheinlich nicht Japan ist. Gut, wo bin ich dann? Passiert hier irgend etwas, das in mein gewohntes Tagesweltbild nicht paßt? Im Vertrauen und ohne ins Detail zu gehen: Ja, sehr viel. Also bin ich, was zu beweisen war, offensichtlich auf dem Somnamboulevard. Zugegeben, wenn du solche Realitäts-Checks vornimmst, fällt es anfangs leichter, beim Wachen zu merken, daß du nicht träumst, als beim Träumen dahinterzukommen, daß du nicht wach bist. Du nörgelst immer noch an der Realität des Klartraumes herum (solange du nicht selbst träumst)? Du sagst, daß der Traum eine private Imagination und kein stabiler, objektivierbarer Ort sei? Gebongt, völlig d'accord, aber diesem Kriterium hält die wache Welt ebensowenig stand. Darwin berichtet, daß die Indianer Patagoniens sein Schiff anfänglich gar nicht „sahen“. Weil sie noch kein mentales Modell von einem Segelschiff hatten, war es für sie objektiv nicht vorhanden. Ihr Bild von der Welt hielten sie aufrecht, indem sie den Anblick des Schiffs daraus tilgten.

Wir sind aber alle Erkenntnis-Indianer, und unsere Welt entspringt der Pfiffigkeit unserer Gehirne, die mit Hinzufügungen und Tilgungen — permanenter Traumproduktion also — Stabilität gewährleisten, indem sie diese über alle Ungereimtheiten hinweg gemeinsam fingieren. Das Wissen, ob du wachst oder träumst, gibt insofern keinen Aufschluß über Wahrheit oder Unwahrheit der beiden Zustände, erleichtert aber die Navigation.

Wenn nun aber die Wachfiktion mal keinen Sinn ergibt, was ja häufig geschieht — und zwar nicht nur in Patagonien —, sagst du offenen Auges: Ich glaub, ich träume! und stopfst die Löcher in der Welt mit bunten blinden Flecken zu. Mehr machen wir auf dem Somnamboulevard auch nicht, das aber mit größerem Selbstbewußtsein.

Alle Träume sind wahr-sinnig; welche in der Welt des Kollektivs dann echt werden, ist nur noch eine Frage von Realitäts-Marketing.