Armes Schwein im Hauptmannsrock

Ein Offizier der Staatssicherheit erschoß seine Mutter und bekam dafür vom Bundesgerichtshof viereinhalb Jahre  ■ Von Henning Pawel

So manches Blatt hätte damit aufgemacht. Übrig aber bleibt am Ende keine Bestie, sondern ein armes Schwein. Dietmar K. war Offizier der Staatssicherheit. Sogar Hauptmann, aber kein Hauptkerl des „dämonischen Geheimbundes“, sondern simpler Paßkontrolleur im Zug Probsthaida-Berlin. Und es kommt noch besser. Denn „bessere Zeiten“ waren es, auf die er mit seiner Frau und Freunden am Sylvesterabend 1989/90 anstieß. Ein legitimes Anliegen, denn wir alle haben an jenem unvergeßlichen Jahreswechsel Hoffnungen und Wünsche solcherart in die Winterwelt hinausgeschrien.

Für Dietmar K. aber, den Stasimann, der voller Hoffnung war, begann der Alptraum noch in der gleichen Nacht. Von der Feier nach Hause zurückgekehrt, traf er auf die schwer zuckerleidende Mutter. Die, eine offensichtlich böse Sieben, ließ keine Gelegenheit aus, der Schwiegertochter wie dem Sohn die Gastfreundschaft, welche ihr erwiesen wurde, zumindest verbal heimzuzahlen. Schmähungen, Vorwürfe, Ignoranz.

Die Mutter, von Diabetes und wohl auch vom lebenslang auf den Sohn ausgeübten Druck geprägt. Die Ehefrau, eine mäßig bezahlte Schreibkraft beim Ersten Kreissekretär der SED, die bereits ihren Arbeitsplatz verloren hatte, und der Täter. Jener Hauptmann, dessen Lebensaufgabe es war, Pässe zu kontrollieren, die vorzuzeigen nun aber niemand mehr bereit war.

Und so kam es, daß die zwar zuckerige, in Wirklichkeit aber gallebittere Mutter in der Sylvesternacht auf Sohn und Schwiegertochter traf und erneut mit den beiden kräftig zu streiten begann. Frau K. hielt emsig dagegen, zog sich aber dann in ihr Bett zurück. Die Zuckermutter suchte nun ebenfalls ihr Schmerzenslager wieder auf. Dietmar K. aber eilte zum Kleiderschrank, holte seine Dienstpistole und trat damit ans Bett der alten Frau. Die soll wohl noch gesagt haben, „Junge, tu's nicht“. Er aber tat es und drückte gleich zweimal ab. Bereits der erste Schuß traf ins Herz. Nicht nur der Mutter. Auch sich selber hatte der Dietmar K. ins Sohnesherz getroffen. Das psychiatrische Gutachten bescheinigt ihm ein außerordentlich enges Verhältnis zu seiner Mutter. Er hatte nie gegen sie opponiert und war ihr offensichtlich viel mehr zugetan als der eigenen Frau. Ein weicher Mensch ist es, mit einem ausgesprochenen Harmoniebedürfnis, der Konflikte grundsätzlich abwiegelt, der immer zu besänftigen versucht.

Wie wohl mag er den Konflikt mit den Besitzern ungültiger Pässe im Zug Probsthaida-Berlin bewältigt haben? Mit weit weniger Sentiments, nehme ich einmal an. Wenn sich wenigstens ein von ihm Verschonter gemeldet hätte beim Prozeß. Bewährung wäre das mindeste gewesen. Aber es kam halt keiner. Und er hat auch nicht behauptet, daß es einen gibt.

Doch nicht darum ging es in diesem Strafverfahren, um die Motive und die Sühne für die schreckliche Tat. Aus Sohnesliebe nahm er die kranke Mutter auf in der, man höre und staune, 38 Quadratmeter großen Mansardenwohnung. 25 Jahre war er bei der Ohrenfirma, hatte es bis zum Hauptmann gebracht, aber eben nur bis zu 38 Quadratmetern Privatsphäre. Keine Privilegien und auch keine Hilfe, weder vom eigenen Dienst noch vom SED-Kreissekretär, bei dem die Ehefrau beschäftigt war. Der, man muß es wissen, war der mächtigste Mann im Territorium und hätte durch ein Heben der Augenbrauen eine neue, größere Wohnung anweisen lassen können oder einen Platz im Pflegeheim für die leidende, fast erblindete alte Frau. Er tat es aber nicht. Ebensowenig wie das Mielke-Imperium.

Der Hauptmann verstand die Welt schon vor der Wende nicht mehr. Erst recht dann nicht, als die Massen über Ungarn das Weite suchten. Da hat wohl ein Umdenken bei ihm eingesetzt. Wer unter solchen Verhältnissen in 38 Quadratmetern hausen muß, begreift schließlich auch das Bedürfnis anderer Menschen nach Luft. Schwere Depressionen. Die Flasche wurde immer häufiger bemüht. Mehrfach auch Rückzug in die Garage, wo er sich verschanzte und mit der Dienstwaffe diesem jammervollen Dasein ein Ende machen wollte.

Ebenso jammervoll wie das Dasein des Hauptmanns auch seine Verteidigungsstrategie vor Gericht. Erinnerungslücken, voneinander abweichende Schilderungen des Tathergangs. Dann wieder die Behauptung, man habe ihm bestimmte Aussagen in den Mund gelegt. Auch sieht er die Schuld mitunter bei anderen. „Sechs Jahre“, lautete das Urteil des DDR-Gerichts im Jahr 1990. Die gewendeten Richter sahen wohl mehr den Stasi-Mann, den es aus Gründen neuer Loyalität strengstens zu richten galt. Ein Totschlag sei die Tat gewesen, so die Begründung. Der Bundesgerichtshof hob nun in einer neuen Hauptverhandlung das Urteil auf. Diese Richter sahen im Hauptmann K. lediglich den gescheiterten, schuldigen Menschen. Eine „Tat im Rausch“ sei es gewesen, lautete das weitaus fairere Urteil. Auch jenes dubiose Vernehmungsprotokoll, in dem sich kein Wort mit dem Inhalt eines anderen schriftlichen Protokolls deckte, war eine Ursache für die Kassation. Viereinhalb Jahre muß Dietmar K. dennoch ins Zuchthaus. Auch er, zweifellos ein Opfer jener Verhältnisse, die er zu bewahren half. Wie gut, daß sie vorüber sind.

Für den Hauptmann von der Stasi freilich sind sie nicht vorbei. Das Bewußtsein einer furchtbaren Schuld wird ihn für immer begleiten. Lange Jahre im Knast warten auf ihn sowie die Selbstgerechtigkeit seiner Mitgefangenen. Die zwar stets eifrig und völlig berechtigt für sich um Mitgefühl werben, mit einem wie ihm aber, so ist zu fürchten, keines kennen werden.