: Happy-End oder „Zeit der Wirren“?
■ Gorbatschow fügte sich ins Unvermeidliche und gab sein Einverständnis, die UdSSR aufzulösen
„Als Politiker kann ich nicht gegen den Strom schwimmen“ — mit dieser entwaffnenden Erklärung begründete Gorbatschow sein Einverständnis, die verbleibenden Institutionen der Sowjetunion bis zum Jahresende aufzulösen. Unmittelbar nach der Gründung des Brester Freundschaftsbundes hatte Gorbatschow diesen Zusammenschluß noch als illegal, als verfassungswidrig, als Sprung in den Abgrund der Anarchie angeprangert und am Projekt eines konföderativen Staates festgehalten. Über den Obersten Sowjet wollte er ein unionsweites Referendum erzwingen. Erst als klar wurde, daß die zentralasiatischen Republiken und Armenien auf die Seite des „Commonwealth“ überwechseln würden, fügte er sich ins Unvermeidliche. Ihm bleibe jetzt noch die Aufgabe, den Übergang „ordnungsgemäß, in konstitutioneller Weise und der Öffentlichkeit gegenüber transparent“ zu gestalten.
Innerhalb von nicht ganz zwei Wochen werden das Unions-KGB, das zentrale Innen- und Außenministerium, der Volksdeputiertenkongreß und sein bürokratischer Unterbau, nicht zuletzt auch der gesamte Apparat des Staatspräsidiums und seiner Stäbe aufzulösen sein. Das Verteidigungsministerium und die Kommandozentralen der Streitkräfte werden auf das „Commonwealth“ übertragen. Das Schicksal der Interimstrukturen, die nach dem August-Putsch eingerichtet worden waren, ist ungewiß. Während der Staatsrat sicherlich liquidiert werden wird, ist nicht ausgeschlossen, daß die „Regierung“, also das zwischenstaatliche Wirtschaftskomitee Iwan Silajews, ihre Tätigkeit im Rahmen des „Commonwealth“ — freilich auf strikt koordinierende Funktionen begrenzt — fortsetzen wird.
Alle Probleme, die durch die Beerdigungserklärung des Brester Vertrages aufgeworfen worden sind, harren weiter der Lösung: Sind alle sowjetischen Gesetze nichtig, oder gelten sie auf Widerruf? Wie soll das künftige militärische Oberkommando aussehen, wer kontrolliert die Atomwaffen einschließlich der „taktischen“? Wie ist zu vermeiden, daß durch die Preisfreigabe in Rußland zu Anfang Januar die anderen künftigen „Commonwealth“-Staaten ins Chaos gestürzt werden usw. Die Teilnehmer der Konferenz von Alma Ata, bei der es um die Erweiterung des „Freundschaftsbundes“ auf die zentralasiatischen Republiken geht, stehen nicht nur unter Problem-, sondern auch unter Zeitdruck. Hinter den konstitutionellen und militärischen Fragen steht die Gefahr des vollständigen wirtschaftlichen Zusammenbruchs. Der politische Raum, der durch die Initiative von Brest geöffnet wurde, droht angesichts des Massenelends wieder zu verschwinden.
Ob der jetzt ablaufende Prozeß ein glückliches Ende finden oder in einer neuen „Zeit der Wirren“ enden wird — Gorbatschow wird ihn nicht mehr wesentlich beeinflussen können. In dem für das Schicksal der Union entscheidenden Zeitraum von 1987 bis 1990 hat er keinen der Gedanken aufgegriffen, die die UdSSR auf der Basis eines „horizontalen“, freiwilligen und gleichberechtigten Zusammenschlusses erneuern wollten. 1988 ging es in den baltischen Staaten noch um die „innere“ Souveränität, in der Ukraine, in Transkaukasien, in Moldawa hätte das Projekt einer demokratischen Föderation auf breite Zustimmung rechnen können. Gorbatschow aber brachte ein „Austrittsgesetz“ durch, daß die Republiken faktisch an Moskau fesselte. Seine verschiedenen Entwürfe zum Unionsvertrag ließen absichtsvoll die Kompetenzverteilung zwischen der Union und den Republiken, immerhin das Kernstück jeder föderativen Verfassung, im dunkeln, wo sie nicht sogar eindeutig das Übergewicht der Zentrale festschrieben. Der Bevölkerung der Sowjetunion legte er eine manipulative Abstimmungsfrage über den Erhalt der UdSSR vor, die eine klare Entscheidung unmöglich machte und deren Ergebnis deshalb wertlos blieb. Sein Schwenk ins Lager der nationalistischen Rechten vom Herbst 90 bis Frühjahr 91 schwächte das Lager der demokratischen Unionsbefürworter vom „Block demokratisches Rußland“ bis zu Schewardnadse und verhärtete die Fronten, ohne irgendein Problem zu lösen — nicht einmal im reaktionären, zentralistischen Sinne. Wo es um eine sorgfältige, um friedlichen Interessenausgleich bemühte Schlichtung im Streit der Nationalitäten gegangen wäre — Hauptbeispiel Nagorny Karabach — schwankte Gorbatschow zwischen Untätigkeit und brachialer Gewalt. Seine Politik stand im Transkaukasus dem klassischen „Divide et impera!“ näher als dem ständig proklamierten „neuen Denken“ in zwischenstaatlichen Beziehungen. Bei allem Finassieren, bei allen taktischen Schwenks ist sich Gorbatschow in einem stets treu geblieben: der Verteidigung der Zentrale und ihrer Prärogativen. Als Politiker wird er mit ihr zusammen untergehen. Christian Semler
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