Die ersten freien Parlamentswahlen in Algerien

Am kommenden Donnerstag werben 5.600 Männer und ganze 200 Frauen um die Stimmen/ Trotz der Stärke der Islamisten verläuft die Kampagne ziemlich lau/ Der Ausgang ist völlig ungewiß/ Ein Teil der alten FLN-Führung sucht jetzt Kontakt zur FIS, ein anderer klammert sich an die Macht  ■ Von Oliver Fahrni

Berlin (taz) — In der 13. Nacht sammelten sich die überlebenden Krieger Gottes in einem Palmenhain bei Biskra, tarnten ihre Audis und Peugeots, zählten die Munition, beteten und harrten des Todes. Im ersten Morgenlicht sahen sie die Sonderheiten der algerischen Armee in Stellung gehen. Verteidigungsminister Khaled Nezzar hatte die „endgültige Vernichtung“ befohlen.

Der Chef des Islamisten-Kommandos, Afssa Messaoudi, ein Bauer aus der Gegend, hielt seine Krieger zum letzten Gefecht an. Sie nannten ihn respektvoll „Tayeb el-Afghani“, weil er als islamischer Internationalist das Regime von Kabul bekämpft hatte. Die 400 algerischen Freiwilligen, die in den Reihen der afghanischen Mudschaheddin dienten, sind heute das militärische Rückgrat der radikalsten algerischen Oppositionsgruppen, oft aber als „Agents provocateurs“ zugleich mit den Geheimdiensten verbandelt.

Mit Äxten, Säbeln, Messern und ein paar Revolvern bewaffnet, hatte Messaoudis Haufen die Gendarmerie-Garnison von Guemmar überfallen, der Geburtsregion von Abassi Madani, dem Chef der Islamistischen Heilsfront (FIS). Die 400-Mann-Kaserne lag mitten in der Nacht wie dargeboten, nur von einem Offizier und ein paar Dschundis (Soldaten) bewacht. Der Offizier, sein Adjutant und ein Gemeiner wurden gemeuchelt, ein Angreifer schwer verletzt. Aber es erging kein Alarm. Zwei Stunden lang konnte sich Tayeb der Afghane nach Waffen umsehen, die gefangenen Soldaten mit Propaganda traktieren und in aller Ruhe mit 50 Schnellfeuergewehren und reichlich Munition abziehen.

Innenminister bläst zur Islamistenjagd

All das geschah drei Wochen vor den ersten „freien“ Parlamentswahlen, wie von einem finsteren Kopf im Innenministerium ausgedacht. Khaled Nezzar, der heimliche Premier, blies zur Islamistenjagd. Die ganze Region wurde großräumig umstellt und durchkämmt, 100 Personen, darunter der FIS-Bürgermeister von Guemmar, festgenommen, bei einem ersten Gefecht neun Afghanen erschossen, der Rest im Palmenhain von Biskra gestellt und niedergemacht. 25 Gotteskrieger starben.

Nezzar eilte, mit einem Kampfdreß angetan, ins Fernsehstudio und beschuldigte die FIS, „indirekt“ hinter der Messaoudi-Gruppe zu stehen. Seine rechte Hand, Innenminister Larbi Belkeheir, ein unlängst ins Amt gehobener General, setzte nach und drohte, die FIS aufzulösen, falls sich eine „direkte Beteiligung“ belegen lasse. Die Armee werde eine „Verschlechterung der Situation“ nicht zulassen. Die Drohung tat ihre Wirkung. Abdelkadr Hachani, der provisorische FIS-Sprecher, wies die Vorwürfe zurück und sagte: „Wenn das Regime unsere Zerschlagung will, soll es das gleich sagen. Wir wollen den islamischen Staat — aber auf dem legalen Weg über die Urnen.“ Wenige Tage später beschloß der Majliss Echoura, die kollektive FIS-Führung, an den Wahlen vom 26.Dezember teilzunehmen. Dies, obschon Abassi Madani, Ali Ben Hadsch und mit ihnen eine unbekannte, aber hohe Zahl von FIS-Kadern noch immer in den Militärkerkern modern. Ein FIS-Boykott hätte die Parlamentswahlen zur Farce gemacht. Jetzt können am kommenden Donnerstag die AlgerierInnen zu Wahlen gehen, an die niemand mehr so recht glaubte.

Damit wird vorerst eine Klammer geschlossen, die im Oktober 1988 mit der blutig niedergeschlagenen Revolte im ganzen Land aufging. Das herrschende FLN-Regime versprach die politische Öffnung der Gesellschaft. Im Juni 1990 gewannen die Islamisten überlegen die ersten Lokal- und Gemeindewahlen.

Es war mehr als ein Protestvotum. Die Befreiungsfront FLN hatte viel für Algerien getan, seit den Achtzigern aber zunehmend abgewirtschaftet. Während sich die Lebensbedingungen verschlechterten, lagerte sich um FLN und Armee eine neue Bourgeoisie, die in einem sorgfältig ausbalancierten System von Clans enorme Vermögen anhäufte. Allein im letzten Jahrzehnt, bekannte der frühere Premierminister Abdelhamid Brahimi, hat die Nomenklatura 26 Milliarden Dollar Bestechungs- und Kommissionsgelder eingesackt — mehr als die drückende algerische Außenschuld.

Mit dem Junivotum wurde klar, daß die junge algerische Bevölkerung — 70 Prozent sind jünger als 26 Jahre — keine Hoffnungen mehr in die westlichen Entwicklungsmodelle Sozialismus oder Liberalismus setzt. Vielen erscheint heute das Regime als eine kaschierte Fortsetzung der Kolonialherrschaft.

Radikaler Bruch mit alten Abhängigkeiten

Die FIS und die anderen islamistischen Gruppen („Nahda“, „Hamas“) setzen an diesem beherrschenden Lebensgefühl an. Sie sind eher politisch-revolutionäre denn religiöse Bewegungen. Sie haben der algerischen Gesellschaft ein dichtgeknüpftes soziales Netz unterspannt. Und sie deuten die jüngere Geschichte neu als eine ununterbrochene Abhängigkeit von Weltmarkt und imperialen Mächten. Nach 400 Jahren Türkenherrschaft, 130 Jahren französischem Kolonialismus und 30 Jahren FLN-Regime wollen die Islamisten nun den radikalen Bruch und eine neue algerische Identität. Abassi Madani setzte gegenüber der taz vor seiner Verhaftung das FIS-Programm auseinander: umfassende Landreform, kulturelle Abkoppelung vom Westen, Scharia, High-Tech und ein durch islamische Solidarität gemildeter Kapitalismus. Der alte FLN-Kämpe und Ex-Premier Brahimi sieht das so: „Auf nationaler wie internationaler Ebene ist die radikal-islamistische Bewegung ein unumgänglicher Faktor geworden. Der Islam macht nur einer kleinen Minderheit von Privilegierten Angst.“

Brahimis Wort zeigt nicht nur, wie tief die algerische Gesellschaft, sondern auch die alte Führungsriege gespalten ist. Während sich eine wachsende Fraktion der alten Revolutionäre für einen neuen Zusammenschluß „nationaler Kräfte“ unter Einbeziehung der Islamisten erwärmt, setzen Premierminister Sid Ahmed Ghozali, die Armee und mit ihr die bestimmenden Clans auf eine rasche Modernisierung der Wirtschaft, die Öffnung für den Weltmarkt und ausländische Investoren und Arrangement mit dem Internationalen Währungsfonds. Sie machten im Frühjahr klar, daß sie die Macht nicht an die FIS abtreten möchten — und sei es durch Wahlen.

Präsident Chadli Bendschedid sorgte vor und setzte eine gezielte Provokationspolitik in Szene. Mit Hilfe französischer Experten verbog er Wahlgesetz und Wahlkarte so, daß die unter demokratischeren Umständen mehrheitsfähigen Islamisten Gefahr liefen, eine Niederlage einzustecken. Gleichzeitig wurden mit dem Wahlgesetz die erwachenden demokratischen Parteien (Ait Ahmeds sozialdemokratische FFS, Said Saadis Kabylenpartei RCD etc.) zu Statisten gemacht. Doch nur die Islamisten suchten im Mai mit einem Generalstreik und Demonstrationen die Änderung der Novelle zu erzwingen. Das Regime verhängte sofort den Ausnahmezustand, verschob die Wahlen auf Dezember, schlug die Demos nieder, enthauptete die FIS- Führung und verhaftete über 8.000 Islamisten — praktisch den gesamten Parteiapparat bis hinunter in die Quartierstrukturen.

Seither stritten in der FIS zwei Fraktionen über den richtigen Weg. Hachani (ein Erdölingenieur) und seine „Algerianisten“ wollten an den Wahlen teilnehmen und suchen vorab die modernen, von der Krise arg gebeutelten Mittelschichten zu gewinnen. Die „Salafisten“ hingegen möchten die Macht im Verbund mit Islamisten anderer Länder von der Straße her erringen. Mit dem Einschwenken der FIS scheint nun das Kalkül Bendschedis vorerst aufzugehen. Der Wahlausgang ist ungewiß. 5.600 Kandidaten und 200 (!) Kandidatinnen stehen zur Wahl und reichlich drei Dutzend Parteien. Dennoch mag sich kein rechter Wahlkampf entwickeln. Was Wunder: Selbst Grundnahrungsmittel werden zunehmend knapp, die Armut steigt, die Spitäler melden zunehmend Fälle von Mangelernährung, der Gewerkschaftsbund hat 227 Prozent Inflation ausgerechnet, und die Prognosen sind düster.

Niemand wagt Vermutungen, wie stark FLN, FIS oder die demokratischen Parteien sind. FFS und RCD, die aussichtsreichsten Alternativen, sind weit vom Volk weg, der Sonderfall Kabylei ausgenommen. „Klar ist nur eins“, sagt ein Beamter im Außenministerium, „nach dem ersten Wahlgang kann alles kippen. Ich würde meine Hand nicht dafür ins Feuer legen, daß der zweite Wahlgang überhaupt stattfindet.“