Afghanistan im Jahre Null des Wiederaufbaus

Eine Reise in die Stadt Khost, die im März von den Mudschaheddin erobert wurde/ Die weitflächige Verminung — Schätzungen sprechen von 35-50 Mio. Minen — verzögert die Rückkehr der Flüchtlinge und den Wiederaufbau des Landes  ■ Aus Khost Bernard Imhasly

Im Schatten des militärischen Patts zwischen Mudschaheddin und Regierungstruppen beginnt in Afghanistan der Wiederaufbau. Die ersten Flüchtlinge kehren zurück, angelockt von Erfolgsberichten der Widerstandskämpfer und getrieben von der immer kritischeren Versorgung in den Lagern.

Der Grenzübertritt ist beinahe eine Enttäuschung: nicht einmal ein Grenzstein markiert die berühmte „Frontier“ zwischen Pakistan und Afghanistan, seit Jahrtausenden das Einfallstor in die fruchtbaren Ebenen des indischen Subkontinents. Bereits die britische Kolonialmacht hatte sich zu deren Schutz die Zähne ausgebissen und auch die sowjetischen Invasionstruppen aus dem Norden hatten sie nie zu konsolidieren vermocht. Als wir den uns begleitenden Mudschahed fragen, wo denn sein Land nun genau beginne, weist er nur auf das trockene Flußbett vor uns hin, das die ganze Talsohle abdeckt und auf dem sich mehrere Fahrspuren eingegraben haben.

Das erste untrügliche Zeichen, daß die Grenze überquert ist, geben schließlich die Lastwagen, die uns mit Schmuggelware — Holz, Reifen, Kisten mit Textilmaschinen made in China — entgegenkommen: Statt von rechts nähern sie sich von links, befolgen also den Rechtsverkehr — als wollten sie deutlich machen, daß Afghanistan nie eine britische Kolonie gewesen ist. Ein wenig später, wenn sich die holprige Straße ins Khost-Tal senkt, wird die afghanische Realität dann aber schnell überdeutlich: Bombenkrater sowie ausgewaschene und eingebrochene Lehmmauern weisen auf ehemalige Bebauungen hin, und unter dem wuchernden Schilfgras läßt sich die ordnende Geometrie von Feldern und Kanälen nur noch erahnen. Hie und da tauchen in der weiten Ebene einzelne Gestalten auf: ein Hirte mit Schafen, weidende Esel, ein Mann, der einen Kanal freischaufelt.

Fragen nach den Gründen für diese Leblosigkeit werden bald beantwortet. Im Autofunk erfahren wir durch Mudschaheddin-Posten in der nahen Stadt Khost, daß die afghanische Luftwaffe seit zwei Stunden mehrere Bomben auf das Tal abgeworfen habe. Kurz darauf hören wir tatsächlich dumpfe Detonationen und das Geräusch von Kampfflugzeugen. Aus Respekt vor der Flugabwehr fliegen die MIGs aber in großer Höhe, die Bombardierung wirkt entsprechend ziellos und dient wohl vor allem der Einschüchterung: die Bauern, die von der Befreiung der Stadt Khost gehört haben und gekommen sind, um die Rückkehr ihrer Familien aus den Flüchtlingslagern in Pakistan vorzubereiten, sollen von diesem Schritt abgeschreckt werden. Die Jagdbomber, ohnehin im Einsatz gegen den Belagerungsring der Mudschaheddin um die Stadt Gardez, fliegen gleich weiter nach Khost, um ihre Luftüberlegenheit zu demonstrieren. Khost selber wird an diesem Tag von zwölf Bomben getroffen, doch die Stadt ist von der langen Belagerung im letzten März noch so stark gezeichnet, daß ein paar weitere Ruinen kaum wahrgenommen werden.

Wen könnten die Bomben auch treffen? Von den ehemals 15.000 Einwohnern ist noch niemand zurückgekehrt außer ein paar Teestubenbesitzern und Krämern, welche die auf 1.500 Mann geschätzte Mudschaheddin-Truppe mit dem Nötigsten versorgen. Sonst sind die unzähligen Ladenlokale mit kaputtem Mobiliar gefüllt, statt parkender Autos liegt hie und da ein zerschossener Panzerwagen herum, und die Wohnstraßen sind mit kniehohem Gras überwachsen.

Mudschaheddin errichten als erstes ein Kriegsmuseum

Die Mudschaheddin scheinen sich keine Mühe zu geben, die Stadt wieder aufzubauen. Das mag auf die sprichwörtliche Uneinigkeit der Widerstandsgruppen zurückzuführen sein, die die Ruinenstadt an sich gemeinsam verwalten sollten. Vielleicht fehlt auch eine Führerpersönlichkeit wie Ahmad Shah Massud, der im Panjshir eine rudimentäre Administration aufgebaut hat.

Haqqani, der „Eroberer“ von Khost, kämpft lieber in Gardez, als sich mit dem Aufräumen und Aufbauen abzugeben oder mit den über 2.500 gefangenen Soldaten, die in der Garnison über der Stadt gefangengehalten werden. Der einzige offizielle Beschluß des „Sicherheitskomitees“ scheint gewesen zu sein, die Flugfelder vor der Stadt zum nationalen Kriegsmuseum zu erklären.

Es sind jedoch nicht nur die Bombardierungen durch das Kabuler Regime, welche eine Rückkehrwelle in die Provinz Paktia verhindern, nachdem deren Hauptstadt Khost im März „befreit“ worden ist. Abschreckender noch ist die große Anzahl von Minen, von denen die Khost-Ebene übersät ist.

Als der UNO-Koordinator für Humanitäre und Wirtschaftliche Hilfe für Afghanistan (UNOCA) im Juli 1990 in einer großangelegten Aktion eine erste Rückführung in die Wege leitete, war dieser kaum Erfolg beschieden. Zahlreiche Menschen und Tiere wurden, oft noch bevor sie ihre Heimatorte erreichten, von Minen getötet oder verstümmelt. Ihr Schicksal bewog die meisten der offiziell über drei Millionen Flüchtlinge in Pakistan, die relative Sicherheit der Lager nicht aufzugeben.

In der Folge wurde „Operation Salam“, das Entminungsprogramm innerhalb der UNOCA, intensiviert. Im Lauf des nächsten Jahres sollen die beiden Organisationen, welche für die Lokalisierung und Beseitigung der Minen zuständig sind, auf 2.000 Personen verstärkt werden.

Unser Besuch in der Paktia, von der UNOCA organisiert, galt unter anderem der Beobachtung der Arbeitsweise der Entminungsgruppen. Was dabei zuerst und mit aller Wucht ins Auge fällt, ist die Ungewißheit über die Zahl der zerstörerischen Explosivkörper: „Die Schätzungen für ganz Afghanistan gehen von fünf bis 35 Mio. Minen aus, aber es könnten ebensogut 50 Mio. sein“, sagt Captain Mark Willetts, einer der Offiziere, welche von der australischen Pioniereinheit für die Unterweisung der UNO-Entminungsteams detachiert worden sind.

Die Eingrenzung dieser enormen Dunkelziffer wird dadurch erschwert, daß die sowjetischen Truppen nicht nur zum Schutz von befestigten Posten oder von den Frontabschnitten Minen gelegt haben, wie dies auch die Mudschaheddin taten, sondern die kleinen nierenförmigen „Schmetterlingsminen“ zu Tausenden von Flugzeugen abwarfen.

Sayed Aga, der junge afghanische Direktor der „Survey Teams“, fügt hinzu, daß die systematisch angeordnete Minenlegung in den letzten Jahren vor dem Abzug der Sowjets immer unregelmäßigeren Mustern gewichen ist, für ihn das Resultat der immer stärkeren Drogenabhängigkeit vieler junger Soldaten. Sie macht nun eine „Entsorgung“ noch umständlicher und gefährlicher.

Minensuche ist eine quälend langsame Arbeit

In der Nähe von Dragei, dem Hauptort des Distrikts Tani mitten in der fruchtbaren Ebene des Khost-Flusses, beobachten wir zwei der insgesamt zehn Survey Teams bei der Arbeit. Sie wurden von den ersten Rückwanderern auf ein Minenfeld aufmerksam gemacht, nachdem ein Hirte zusammen mit zahlreichen Schafen getötet worden war. Die Zone wird nun von mehreren Geländepunkten, die noch minenfrei sind, angegangen und eingegrenzt.

Die Arbeit geht quälend langsam voran: Zuerst tastet ein Mann mit seinem Suchgerät den Boden auf einem Zwei-Meter-Korridor ab. Bei jedem Alarm markiert er den Punkt, zieht sich zurück und überläßt seinen Platz dem zweiten Mann, welcher —der Länge nach auf dem Boden ausgestreckt— mit einem Bayonett im Boden zu stochern beginnt. Findet er eine Mine, wird der Punkt mit roter Farbe markiert und in einer Karte eingetragen. „Aber nur in einem von tausend Fällen stößt er auf eine Mine“, meint Sayed Aga: Meist sind es Granatsplitter, Gewehrkugeln oder sonst Kriegsmetall, auf die das Gerät reagiert. So kommt es, daß das Team oft tagelang mit einem kleinen Geländestreifen beschäftigt ist, keine Mine findet — und dennoch auf jede Warnung des Suchgerätes mit derselben Sorgfalt eingehen muß.

Von den 42 Dörfern im Bezirk, in denen die Präsenz von Minen signalisiert wurde, haben die beiden Teams in einem Jahr erst zwei gesichtet und kartographiert. Während der einen Stunde, in der wir eine Gruppe beobachten, findet sie lediglich Metallfetzen von Bomben, Gewehrkugeln, Stolperdrähte — und Knochensplitter von Tieren, die beweisen, daß das Feld noch vermint ist.

Im Flußbett mehrere Kilometer stromabwärts sind zwei Entschärfungstrupps — jedes mit 27 Mann — dabei, das Feld mit Hilfe der Umrißkarte systematisch abzusuchen, mit dem gleichen langwierigen Abtasten und Stochern. Gelegentliche Explosionen zeigen an, daß eine Mine entdeckt wurde. In den meisten Fällen sind es Personenminen mit einem Bakelitmantel, in Form und Größe einer runden Camembert-Schachtel ähnlich, die auf Druck explodieren. Sie werden mit einer Dynamitladung versehen und in die Luft gesprengt.

Im Gegensatz zur Vermessungsarbeit, die meist von ehemaligen Studenten geleistet wird, wird die eigentliche Minenräumung von Mudschaheddin ausgeführt, die sich freiwillig zu dieser Aufgabe gemeldet haben. Für sie ist es eine Form des Befreiungskampfes, obwohl sie dabei ihre geliebte Kalaschnikov AK47 nicht einsetzen können.

Tatsächlich ist die Arbeit gefährlich, und was ihr an körperlicher Anstrengung abgeht, fordert sie um so mehr an psychischem Durchstehvermögen. Mit derselben halsstarrigen Geduld und Zähigkeit, mit der sie während zehn Jahren dem sowjetischen Eindringling Widerstand geleistet haben, hören die oft kriegsversehrten Kämpfer aber jeden Quadratmeter ab, stochern ihn auf und machen ihn wieder zu einem sicheren Stück Erde, das man beschreiten und bebauen kann. Sie machen sich wenig Illusionen über die Langwierigkeit dieser Sisyphusarbeit.

Sayed Aga ist überzeugt, daß auch die Enkel dieser Männer noch Minen entschärfen werden. Dennoch sind sie stolz auf ihre Arbeit: Für sie ist die Redensart, daß das Land Meter um Meter zurückerobert werden muß, buchstäbliche Wirklichkeit geworden.