Mailbox Maniac Man

■ Stefan Gerhard über kreative Festgestaltung

Stille Nacht, eisige Nacht, alles feiert, einsam wacht nur der Computerfreund vorm Monitor. Zu Hexentreppen geflochtene Lochstreifen aus Endlospapier und plastenes Konfetti aus dem Diskettenlocher verbreiten behagliche Stimmung am Schreibtisch. Heißer Darjeeling dampft aus der Thermoskanne, während der Duft von Spekulatius sich mit dem Geruch erwärmter elektronischer Bauteile vermischt.

Neben dem Summen des Festplattenlüfters, das wie der Engelein Chor anmutet, ist nur das leise Klicken des Modem-Relais zu vernehmen, mit dem der Automat sich ins Telefonnetz wählt.

Die zahlreichen Anzeigen des Übertragungsgeräts blinken, den bunten Lichterketten auf der anderen Seite des Hinterhofs gleich, bis nach bangem Warten der Bildschirm mit CONNECT frohlockt.

Zwei Paßwörter noch — im Zweifel reicht es, zweimal GAST einzugeben — schon ist das Tor zur Datenwelt aufgestoßen: »Willkommen in der TBX-2, Berlin-Kreuzberg, Mitglied im Verein Kommunikation und Neue Medien e.V.« Endlich daheim in der virtuellen Kneipe Mailbox.

Die TBX-2 ist einer von zirka hundert privaten, vernetzten, anrufbaren Rechnern in Berlin, auf deren Festplatten jeweils einige Dutzend Menschen von ihrer Wohnung aus schreiben. Oft ist das Örtchen besetzt, denn der Hobby-Betreiber der TBX-2 hat nicht nur das Geld für eine einzige Telefonleitung zum Computer. Eine leistungsfähige Tabellenkalkulation hilft dann oft, die Zeit zu vertreiben, bis der Vorgänger sein Geschäft verrichtet hat. Unser Freund am Computer leert seinen elektronischen Briefkasten, wirft einen Blick auf den nicht nadelnden Dateiverzeichnisbaum und beantwortet in der Lounge /BERLINET/ ALLGEMEINES die Weihnachtsgrüße.

Die Zeitstempel der elektronischen Nachrichten sind noch ganz frisch. Ein selbst gesungenes Sample von Oh Tannenbaum wird als Binärdatei übertragen, dann guckt der Anrufer in die strahlungsarme Röhre: in welche Mehrbenutzer- Mailbox die Benutzer vor ihm wohl weitergezogen sind? Wollten sie nicht zum gemeinsamen Abtippen von Weihnachtsliedtexten zusammenkommen? Tränen rinnen ihm übers Gesicht, und er weiß nicht, ob er eine Reklamation an den Monitorhersteller schreiben oder die CREDO, eine christliche Mailbox in Westdeutschland, anwählen soll.

Er loggt sich aus, um bei einer Runde Tetris die Telefonkosten auszurechnen. Plötzlich klingelt das Telefon, der Anrufbeantworter springt an. Das melodische Piepen eines fremden Modems tönt aus dem Lautsprecher. Rasch schaltet der User das Gerät auf »Auto Answer«, bis die Verbindung steht. Es ist sein ehemaliger Redakteur Sch., ebenfalls ein TBX-2-Benutzer, der es sich zur Angewohnheit gemacht hat, Sozialkontakte per Modem zu pflegen. »ZELATOR« ist alles, was er schreibt, dann bricht die Verbindung ab.

Als der Angerufene bei einem Glas Port am Gast-Port 2 der Zelator durchkommt, geht es dort bereits hoch her. Schamhaft wählt er die Hilfefunktion, dann »CHAT«, um mit einem frischen Pseudonym zur Plauderei an der Datentheke zu stoßen. Ist das ein Hallo, als er »Frohes Fest« in die Runde schreibt!

Ein augenbetäubendes Rufen in Versalien dringt dem verloren Geglaubten über die Leitung entgegen. Er schenkt etwas frisch gebrühten Tee nach und stimmt mit flinker Hand in den Chor von Vom Himmel hoch ein, einem Lied, daß er früher bestenfalls zu summen verstand. Stefan Gerhard

Rufnummern zum Selbstwählen: TBX-2: 030-691 52 52 (300-19.200 Baud, 8/N/1) Zelator: 030-462 61 37, 462 62 37 (300-9.600 Baud, 8/N/1)

Mailbox-User, schickt uns Geschichten! Wir würden das Thema gern im Neuen Jahr ausführlicher behandeln — oder sagt etwa irgendjemand, Computer- Kommunikation habe nichts mit Kultur zu tun? Aber bitte, kein Fachchinesisch, keine Geschichten, die nur für Insider interessant sind!