: Rasur und Aspirin, zur Not auch Gott
■ Thomas Groß empfiehlt Popmusik für die Fest- und Zwischenfesttage: Von Rock-News-Gewinnern bis Pannach & Kunert
Feiertage? Wer gescheit ist und Geld hat, haut ab. So jedenfalls die übereinstimmende Meinung hier in der Redaktion. Skifahren in der Umgegend von München, stille Tage im Sauerland, Sauerbraten bei den Eltern — metropolifugale Tendenzen, wohin das Ohr auch hört. Selbst lange Wartezeiten am Schalter und die nicht zu unterschätzende Gefahr eines Nervenzusammenbruchs angesichts des Versuchs, einen Fensterplatz zu reservieren oder auf den letzten Drücker noch eine Fernreise zu buchen, werden ohne Murren in Kauf genommen. Wer jetzt noch hierbleibt, wird es lange bleiben.
Ob die paar Festgenagelten wenigstens in der populären Musik Trost finden werden, weiß natürlich niemand, noch nicht einmal der Wind. Immerhin ist die Konzertfrequenz zum definitiven Ausklang der Saison nicht unbedingt rückläufig. Fast jeder Klub bietet selbst am Heiligabend irgendeine Art von Programm an. Wer die Überraschung sucht und doch von untergründigen Weihnachtsstimmungen heimgesucht wird, kann sich zum Beispiel im Tacheles eine Band namens Jesus Christ Junior & The Kings Singers anhören. »Weihnachten für Alle« verspricht eine Multikulti-Reggae-Nacht (inclusive Limbo- Show!) mit Joseph Cotton, Buba Jameh, The Soul Librators und DJ Ras Emanuel, ab 20.30 Uhr in der alten Mensa der TU. Weltliches Gegenprogramm: Babes in Toyland, Bosshog und Zuzu's Petals, frauendominierte Bands aus den USA.
»Mädchen wühlen im Dreck verzerrter Gitarren und schreien Haß und Aggression in eine männliche Musikwelt«, schrieb 'ME/Sounds‘ kürzlich in seiner bekannt poetischen Art zu diesem Trend und zur Band Hole, die allerdings ab 21.00 Uhr im Ecstasy leider nicht dabei sein wird.
Mit dem Musik/Lyrik-Kombinat Pannach & Kunert hat mich ein Ex- Wohngenosse einmal bis aufs Blut gequält. Doch seit den Zeiten ernsthaft- biederer Protestfolklore hat sich in der Welt bekanntlich einiges getan, und das neue Programm verspricht »deftigen Spaß«, »viel Power« und sogar »schwarzen Humor«. Möglicherweise ein Grund, am ersten Weihnachtsfeiertag um neune ins Flöz zu gehen. Wer sich dafür dann doch noch zu jung fühlt, kann im Dunckerklub eine Party mit sechs jungen Bands feiern, darunter auch die Lemonbabies, Gewinner des diesjährigen Senatsrockwettbewerbs und Huah, eine nordwestdeutsche, irgendwie ostfriesisch wirkende Gruppe, die mit ihrer ersten LP Was machen Huah jetzt die Skurrilen im Lande für sich zu gewinnen wußte (s. dazu auch Stefan Gerhard, »Nieder mit dem Weihnachtsmann!«). Auf Fotos streckt sie dem Betrachter gern ihre wundervoll verhärmten Gesichter entgegen. Die stilvolle Alternative: Gary Lucas von der Captain Beefheart-Band eine Stunde nach Mitternacht im Café Swing.
Damit sind wir auch schon beim zweiten Feiertag angehechelt. Im Jugendklubhaus ABC spielt die Ostberliner Band Die Vision (21.00 Uhr), wegen Cure-Epigonentums und dräuender Gesamtatmosphäre weniger mein Fall, aber zweifelsohne die Speerspitze des Ost-Undergrounds. Vielversprechender: die Raggamuffin-Nacht mit Asher D, Begleitung und Special guest im Trash. Wer die Lemonbabies, Huah und Support am Vortag verpaßt hat, kann das — selber Ort, selbe Zeit — umgehend nachholen und sich dabei quasi en passant auch noch für DT64 engagieren. Eintritt frei. Dasselbe (minus Engagement und freien Eintritt) gilt für Pannach & Kunert, die überhaupt vom 24. bis zum 29. ihr Programm durchzuziehen angekündigt haben.
Danach droht der definitive Einbruch ins präsilvestrische Winterloch. Abermals Pannach & Kunert, daneben bloß Dit und Dat, das individuell entdeckt werden will. Was auch für den 29. gilt, wo beispielsweise eine Fun-Punk-Band mit dem genialen Namen Highzung für sich Werbung macht (21.00, Acud), und den 30., der ein Konzert mit dem Rock 'n' Roll Orchester Magdeburg (20.30, Eierschale 1) zu bieten hat — wer immer das sein mag. Die bekanntesten Acts des Abends kann ich guten Gewissens nicht empfehlen: Pankow (20.00 im Jojo) bringt dünnblütiges Theater der Grausamkeit im Techno- Stil, Gruppo Sportivo haben ihre besten Zeiten seit mindestens einem Jahrfünft hinter sich.
Unter dem Motto »Berlin's Burning« kann vor der großen Ballerei am 31. im Ecstasy noch die Restzeit und -energie des Jahres verpulvert werden. Potlatsch-Hardcore aus den USA (The Obsessed, Das Damen) und Kanada (Schlönk; heißen so!) steht auf dem Programm, darunter fällt auch eine Band namens Waltari aus Finnland, die angedroht hat, Schlammcatchen und eine Laserstripshow zur Aufführung zu bringen. Da kann noch mal Dekadenz goutiert werden, bevor die guten Vorsätze aufkeimen. Im Joe Hasenheide scratcht (schon ab 20.00) Uhr DJ David Fascher, der Medien-Star unter Deutschlands DJs, dessen Schaffen unter anderem schon das 'Zeit-Magazin‘ gewürdigt hat. Wem das alles noch nicht Dröhnung genug ist, der kann sich schließlich für 20 bis 60 Mark im ICC Karel Gott (Jau! Geil! d. Red.) und sein Orchester zu Gemüte führen.
Danach ist zumindest der Schrecken des alten Jahres vorüber, und nach einer Rasur und mehreren Aspirin wird es schon irgendwie weitergehen.
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