„Selektion entlang völkischer Linien“

■ Gerd Albartus ist tot. So beginnt ein Brief der „Revolutionären Zellen“, der von der Ermordung des „RZ“-Mitglieds Albartus durch eine palästinensische Gruppe berichtet. Den Tod ihres Freundes hat die RZ erstmals zu einer öffentlichen Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Geschichte benutzt. Ausgangspunkt ist die Entführung einer Passagiermaschine 1976, die in Entebbe durch eine israelische Kommandoaktion beendet wurde. An der Aktion waren zwei RZ-Mitglieder beteiligt, die mit dafür sorgten, daß ausscließlich Juden festgehalten wurden. Unreflektierter Antisemitismus ausgerechnet in der radikalen deutschen Linken.

Gerd Albartus ist tot. Er wurde bereits im Dezember 1987 erschossen, nachdem er von einer Gruppierung, die sich dem palästinensischen Widerstand zurechnet und für die er gearbeitet hat, vor einem Tribunal gestellt und zum Tode verurteilt worden war.

Wir haben die Nachricht erst etliche Zeit später bekommen. Bis dahin waren wir davon ausgegangen, daß Gerd von einer Reise zu der Gruppe nicht zurückgekehrt war, weil er von den Hausdurchsuchungen, Fahndungen und Verhaftungen im Dezember 1987 wußte und befürchtete, bei einer Einreise in die BRD ebenfalls festgenommen zu werden. Versuche, über seinen Verbleib etwas in Erfahrung zu bringen, blieben entweder unbeantwortet oder bestätigten uns in dieser Vermutung. Wie die meisten seiner Freundinnen und Freunde, die sich um ihn sorgten, waren wir uns mit zunehmender Dauer seines Wegbleibens gewiß, daß er die Gelegenheit zum Anlaß genommen hatte, um sich der seit seiner Knastzeit verschärften polizeilichen Überwachung und Schikane zu entziehen. Er war, davon waren wir überzeugt, abgetaucht, zwar nicht in unserem Rahmen, aber an einem gesicherten Ort und in einem politischen Zusammenhang, dem er nahestand.

Daß es nochmals gedauert hat, bis wir uns endlich durchgerungen haben, unser Wissen um seinen Tod öffentlich zu machen, liegt an uns. Die Suche nach einer Antwort, die der Ungeheuerlichkeit des Anlasses auch nur einigermaßen angemessen gewesen wäre, in der das Bedürfnis nach Rache seinen Platz gehabt hätte, ohne daß es den Falschen trifft, ist ins Leere gegangen. Bemühungen, über die bloße Nachricht in einem Stück Zeitung hinaus eine Form zu finden, die unserem Entsetzen und unserer Trauer gerecht wird, sind fehlgeschlagen. Der Weg der Veröffentlichung ist zugleich Kapitulation vor weitergehenden Ansprüchen. [...]

Der Sinn der Veröffentlichung ist denkbar einfach: Wir wollen verhindern, daß ein Genosse, der uns wichtig ist, spurlos verschwindet. Wir wollen uns dem Eindruck widersetzen, als könne einer der Unseren ohne Widerspruch umgebracht werden, selbst wenn uns die Mittel fehlen, dies zu vergelten. Wir wollen jeglichen Funken an Zweifel auslöschen, daß es für diese Entscheidung irgendeine Rechtfertigung gibt, die mit unseren eigenen Maßstäben in Einklang steht. Und wir wollen endlich, endlich dem grausig-grotesken Zustand ein Ende bereiten, daß seine Angehörigen, Freunde und Freundinnen weiterhin in der falschen Gewißheit leben, er sei, wenn auch weg und unauffindbar, in Sicherheit.

Für uns steht Gerds persönliche Integrität außer Frage. Über die Vorhaltungen, die die Gruppe ihm gemacht hat, haben wir nur vage Informationen, aber auch ein Mehr an Details könnte uns nicht in der Gewißheit erschüttern, daß es kein einziges Argument gibt, das seine Erschießung erklärt. Was immer die Motive derer gewesen sein mögen, die ihn umgebracht haben — sie liegen jenseits seiner Person.

Im Gegenteil — es gehört zu den makaberen Parodien dieser Geschichte, daß Gerd, in dessen politischer Biographie die praktische Unterstützung des palästinensischen Widerstandes durchgängig eine zentrale Rolle eingenommen hat, ausgerechnet einer jener Gruppen zum Opfer gefallen ist, die sich als Teil dieses Widerstandes begreift.

Unser Wissen über die Gruppe wie über Gerds Verhältnis zu ihr ist begrenzt. Die Verbindungen gehen zurück auf einen Abschnitt unserer Geschichte, unter den wir aus politischen Gründen schon vor etlichen Jahren einen Schlußstrich gezogen haben. Ob und inwieweit sich die Zusammenhänge in der Zwischenzeit auch dort geändert haben, überschauen wir nicht.

Gemeint ist die Zeit nach der gescheiterten Gefangenenbefreiung Ende Juni 1976. Damals hatte ein vierköpfiges Kommando, dem neben zwei Palästinensern auch zwei Mitglieder der RZ, Brigitte Kuhlmann und Wilfried »Bonni« Böse, angehörten, einen Airbus der Air- France in seine Gewalt gebracht und die Freilassung von mehr als 50 GenossInnen gefordert, die zum überwiegenden Teil in israelischen und westdeutschen Knästen gefangen gehalten wurden. An Bord der Maschine, die in Tel Aviv gestartet und auf dem Flug nach Paris in Athen zwischengelandet war, bevor sie von dort aus nach Entebbe umdirigiert wurde, befanden sich über 250 Passagiere, unter ihnen etwa 100 israelische Staatsbürger oder Juden anderer Nationalität. Nachdem die nicht- jüdischen Passagiere innerhalb weniger Tage freigelassen worden waren, verlängerte das Kommando sein Ultimatum, um weitere Verhandlungen zu ermöglichen. Diese Zeitspanne nutzte die israelische Regierung, um eine militärische Lösung vorzubereiten. In der Nacht zum 4.Juli 1976 überfiel eine Spezialeinheit den Flughafen von Entebbe und bereitete der Geiselnahme ein blutiges Ende. Das Kommando kam dabei ums Leben, von den Gefangenen, deren Freilassung gefordert worden war, kein einziger frei.

Es hat Jahre gedauert, ehe wir diesen Rückschlag verkraftet hatten. Unter dem Eindruck des Verlustes der Freunde waren wir zunächst unfähig, die politische Dimension der Katastrophe zu ermessen, die Entebbe für uns bedeutete. Anstatt wahrzunehmen, was uns vorgehalten wurde, nämlich daß wir als Organisation an einer Operation teilhatten, in deren Verlauf israelische Staatsbürger und jüdische Passagiere anderer Nationalität ausgesondert und als Geisel genommen worden waren, beschäftigten wir uns vor allem mit dem militärischen Aspekt der Aktion und ihrer gewaltsamen Beendigung. Das Kalkül des Regimes sollte nicht aufgehen. Um zumindest die Option auf die Befreiung anderer GenossInnen offenzuhalten, mußten wir handeln und durften uns nicht von den alarmierenden Nachrichten über den Ablauf der Geiselnahme und die Rolle unserer GenossInnen darin blockieren lassen. Die Meldung, es sei ausgesondert worden, hielten wir ebenso für ein Produkt psychologischer Kriegsführung wie die Behauptung, daß sich die deutschen Mitglieder des Kommandos dabei besonders hervorgetan haben. Wir kannten Brigitte und Bonni als Antifaschisten, und wir wußten um ihre Motive, sich an der Aktion zu beteiligen. Unser Begriff von Solidarität verbot Kritik an den GenossInnen; eine Diskussion über Fehler wehrten wir ab, als ob Solidarität nicht prinzipiell das Richtige umfaßt, daß einzelne GenossInnen Fehler machen.

Ähnlich vordergründig blieb die Diskussion, wo es um die Suche nach Gründen für das Scheitern der Aktion ging. Zu mehr als Manöverkritik waren wir nicht imstande. Wir beklagten, daß die ursprünglichen Planungen und Absprachen nicht eingehalten worden waren und daß der faktische Ablauf auf den Kopf gestellt hätte, was eigentlich vorgesehen war. Wir kritisierten, daß die Aktion, die aus unserer Sicht einzig und allein einen pragmatischen Zweck verfolgte, nämlich die sofortige Freilassung, im Verlauf ihrer Dauer mehr und mehr den Charakter einer Propaganda-Aktion angenommen hätte. Wir erhoben den Vorwurf, daß dem Kommando im Zuge der Operation die Befehlsgewalt entzogen worden war und die GenossInnen nach der Landung in Entebbe bloß die Weisungen zu befolgen hatten, die an anderer Stelle und fernab des Geschehens ausgegeben wurden. Wir fanden uns schließlich ab mit dem Verweis auf die besondere Dynamik militärischer Operationen, auch wenn unser Vertrauen in eine direkte internationale Zusammenarbeit als besondere Qualität eines praktischen Antiimperialismus an seine Grenzen gestoßen war.

Daß die Grenzen dieser Zusammenarbeit nicht technischer oder taktischer, sondern politischer Art waren, sahen wir nicht, obwohl Stoßrichtung und Verlauf der Aktion eine deutliche Sprache sprachen. Das Kommando hatte Geiseln genommen, deren einzige Gemeinsamkeit darin bestand, daß sie Juden waren soziale Merkmale wie Herkunft oder Funktion, die Frage der gesellschaftlichen Stellung oder der persönlichen Verantwortung, also Kriterien, die wir eigentlich unserer Praxis zugrunde legten, spielten in diesem Fall keine Rolle. Die Selektion erfolgte entlang völkischer Linien. Daß die einzelne Geisel, die die Flugzeugentführung nicht überlebte, ausgerechnet eine ehemalige KZ-Inhaftierte war, ging zwar nicht unmittelbar zu Lasten des Kommandos, lag aber nichtsdestoweniger in der Logik der Aktion. Was gut ein Jahr später, im Fall Mogadischu, selbst unter Linksradikalen eine Welle der Kritik auslösen sollte, nämlich das eine willkürliche Gruppe deutscher UrlauberInnen zur Verhandlungsmasse wurde, darüber setzten wir uns im Fall Entebbe hinweg, obwohl der Verlauf der Aktion die einfachsten Grundsätze revolutionärer Politik und Moral, die wir sonst für uns in Anspruch nahmen, auf den Kopf gestellt hatte. Die entsetzliche Drohung, daß jeder, der israelisches Grundgebiet betritt, wissen muß, welches Risiko er auf sich nimmt, und daß er dieses selbst zu verantworten habe, war blutiger Ernst geworden.

Entebbe war kein Einzelfall, wohl aber der Kulminationspunkt einer Entwicklung, in deren Verlauf wir uns mehr und mehr von dem entfernt hatten, wofür wir mal angetreten waren. Vergessen waren die Sätze, die Ulrike Meinhof knapp zehn Jahre zuvor aus Anlaß des Sechs-Tage-Krieges geschrieben hatte: „Es gibt für die europäische Linke keinen Grund, ihre Solidarität mit den Verfolgten aufzugeben, sie reicht in die Gegenwart hinein und schließt den Staat Israel mit ein.“ Der schwarze September der Palästinenser, die israelischen Luftangriffe auf die Flüchtlingslager, das Massenelend in den besetzten Gebieten, das Regime des Schreckens, das die Besatzungsmacht dort ausübte, die Berichte aus den israelischen Gefängnissen waren uns Grund genug und zugleich Vorwand, unser Wissen über Auschwitz in den Hintergrund zu drängen. Wir machten uns die Losungen des palästinensischen Befreiungskampfes zu eigen und setzten uns darüber hinweg, daß unsere Geschichte eine vorbehaltlose Parteinahme ausschloß. Wir interpretieren den Konflikt mit den Kategorien eines an Vietnam geschulten Antiimperialismus, mit denen er nicht zu ermessen war. Wir sahen Israel nicht mehr aus der Perspektive des nazistischen Vernichtungsprogramms, sondern nur noch aus dem Blickwinkel seiner Siedlungsgeschichte: Israel galt uns als Agent und Vorposten des westlichen Imperialismus mitten in der arabi-

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schen Welt, nicht aber als Ort der Zuflucht für die Überlebenden und Davongekommenen, der eine Notwendigkeit ist, solange eine neuerliche Massenvernichtung als Möglichkeit von niemandem ausgeschlossen werden kann, solange also der Antisemitismus als historisches und soziales Faktum fortlebt. Die dramatische Tatsache, daß dieses Sicherheitsbedürfnis der Juden scheinbar nur gegen die Palästinenser zu realisieren ist, stürzte uns nicht in ein unlösbares Dilemma, wir nahmen sie vielmehr zum Anlaß, uns bedingungslos auf die Seite derer zu schlagen, die in unseren Augen die schwächeren waren. Wo wir unter anderen Voraussetzungen auf der Unterscheidung zwischen oben und unten beharrten, sahen wir im Nahen Osten vor allem gute und schlechte Völker. Am Patriotismus der Palästinenser kritisierten wir ebenfalls dieses Pathos, obwohl uns nicht zuletzt die Geschichte Israels ein warnendes Beispiel hätte sein müssen, daß die Verwirklichung der palästinensischen Maximalforderungen nicht das Ende von Ausbeutung und Unterdrückung, sondern lediglich deren Verewigung unter anderen Vorzeichen bedeuten würde. Leid und durchlebte Verfolgung bieten keinen Schutz davor, daß Menschen zu Ungeheuern werden, sobald sie sich als Staatsvolk zusammenballen. Wo zwei ethnische Gemeinschaften Ansprüche auf dasselbe Stück Land erheben, gibt es keine revolutionären Lösungen. So begreiflich die Schlußfolgerungen waren, die die Palästinenser aus ihren Erfahrungen der Vertreibung und Verfolgung gezogen hatten — wir konnten sie in der Konsequenz nicht teilen, ohne in einen unauflöslichen Widerspruch zu unserer Geschichte wie zu unserem politischen Selbstverständnis zu geraten. Die legitime und notwendige Kritik an der israelischen Besatzungspolitik sowie die selbstverständliche Solidarität mit dem Widerstand der Palästinenser waren umgeschlagen in die Bereitschaft, jüdische Passagiere gleich welcher Staatsangehörigkeit für den Terror und die Grausamkeiten des israelischen Regimes haftbar zu machen und damit sozialrevolutionäre Maßstäbe gegen die der Sippenhaft einzutauschen. Das Ausmaß an historischer Amnesie und an moralischer Desintegration, das in dieser Bereitschaft zum Ausdruck kommt, ist die schwerste Hypothek, mit der unsere Geschichte belastet ist.

Es gibt eine Reihe von Gründen, die diese fatale Entwicklung erklären. Faktoren wie Mißtrauen und Zweifel uns selbst gegenüber, die wir aus dem reichen Norden kamen, oder Opportunismus angesichts der Möglichkeiten, die die Zusammenarbeit mit palästinensischen Organisationen bot, spielen dabei sicherlich ebenso eine Rolle wie der Handlungsdruck, unter dem wir aufgrund der Isolationsbedingungen in den westdeutschen Knästen standen, oder aber die Tatsache, daß wir mit unserem Begriff von Antizionismus nur Teil der historischen Strömung waren, die fast alle Fraktionen der damaligen Linken erfaßt hatte. [...]

Statt in einer grundlegenden Debatte Logik, Ablauf und Resultat der Aktion einer schonungslosen Analyse zu unterziehen und daraus Schlußfolgerungen für unsere weitere Praxis zu ziehen, gaben wir uns mit halbherziger Kritik zufrieden. Die naheliegende Konsequenz, wieder an dem anzuknüpfen, wofür unsere Politik in der BRD stand, nämlich die Orientierung auf die sozialen und politischen Bewegungen im Lande, zogen nur einige.

Dennoch ist auch richtig, daß die Erfahrung von Entebbe tiefe Spuren hinterlassen hat [...] Das Wissen um die Katastrophe wirkte wie ein permanent schwelender Treibsatz fort, der uns immer wieder selbstkritische Diskussionen abverlangte, in denen wir an der Wahrheit nicht vorbeikamen. Die mehr unterschwellige als offene Auseinandersetzung hatte nicht nur Brüche in persönlichen Freundschaften zufolge, sie hat auch an den Fundamenten unseres politischen Konzepts gerührt. Selbst wenn wir nicht im einzelnen auseinanderhalten können, in welchen Punkten die Erfahrung eine ursächliche Rolle gespielt hat oder wo sie lediglich den Hintergrund zu völlig anderen Diskussionen und Entscheidungen abgab — daß sie zentrale Bedeutung in der Bestimmung jener Positionen hatte, die unsere Politik in den folgenden Jahren geprägt haben, steht außer Frage. So berechtigt es also ist, uns einen Mangel an Bewußtheit zum Vorwurf zu machen, so falsch wäre es, zu negieren, daß sich Entebbe — und sei es nur in Form des schleichenden Giftes einer Lebenslüge — dauerhaft in unserem politischen Selbstverständnis niedergeschlagen hat.

Daß wir seitdem nichts mehr unternommen haben, was auf israelische Einrichtungen zielte, ist uns erst wesentlich später aufgefallen. Wo das Thema auf der Tagesordnung stand, haben wir nach westdeutschen Stellen gesucht, die von der Politik Israels profitierten. Die Behandlung palästinensischer Flüchtlinge durch die bundesdeutschen Asylbehörden verfolgten wir genauer als das Drama der Aufstandsbekämpfung in den besetzten Gebieten. Statt mißverständlicher Aktionen haben wir gar keine Aktionen gemacht, wenn wir Bedenken hatten, ob sie vielleicht antijüdisch waren oder zumindest so ausgelegt hätten werden können. Wir hatten allen Grund zur Zurückhaltung, wenn wir uns mit Motiv und politischem Gehalt des Antizionismus beschäftigten. Die Gewißheit, daß auch wir als Linke nicht gegen antisemitische Ressentiments gefeit sind, die notdürftig mit nationalrevolutionären Definitionen kaschiert werden, hat uns praktisch blockiert. [...]

Eine weitere Konsequenz war der allmähliche Rückzug aus den internationalen Kontakten. Allmählich, weil es alte, auch emotionale Verbindungen gab und weil wir uns selbst schwer taten, mit jenen Begriffen und ideologischen Konstruktionen zu brechen, die eine Aktion wie Entebbe überhaupt möglich gemacht hatten. In diesem Prozeß hat sich ein Politikverständnis artikuliert und geformt, das sich fundamental von dem der Gruppe unterschied, mit der wir bis dahin zusammengearbeitet hatten. Differenzen, die wir lange Zeit ignoriert oder der Unterschiedlichkeit von Bedingungen beziehungsweise unserem Metropolenstatus zugeschrieben hatten, erwiesen sich nun als knallharte Widersprüche, für die sich kein gemeinsamer Nenner mehr fand. Der Anspruch, aus unterschiedlichen Positionen heraus solidarisch zu handeln, stieß an seine Grenzen.

Die Zusammenarbeit mit jener Gruppe basierte auf einem Begriff von Antiimperialismus, der soziale Befreiung unmittelbar an die Erlangung staatlicher Souveränität koppelte. Die Beendigung der Fremdherrschaft, so dachten wir, sei gleichbedeutend mit dem Beginn der sozialen Revolution. Da die Befreiungsorganisationen das um seine Unabhängigkeit kämpfende Volk repräsentierten, waren sie der direkte Adressat internationaler Solidarität. Daß die Machtübernahme den sozialen Gehalt der Revolution in fast allen Fällen eher zerstörte als entfaltete, daß sich die Führer der Befreiungsbewegungen, kaum hatten sie die Kommandoposten in den jungen Nationalstaaten besetzt, als Protagonisten brutaler Entwicklungsdiktaturen gebärdeten, daß von der frisch gewonnenen Unabhängigkeit vor allem die alten Kader profitierten, während das anhaltende Massenelend einer neuen Erklärung bedurfte, daß sich — kurz gesprochen — die ganze Dialektik von nationaler und sozialer Befreiung vor allem für die neuen Machthaber rechnete und daß dies keine Frage von Verrat oder korrupter Moral war, sondern dem Wesen der Staatsgründung entsprach — all das paßte nicht in unser Bild eines homogenen Befreiungsprozesses und wurde deshalb ausgeblendet. Erst in dem Maße, wie nach vollzogener Nationwerdung neue Kämpfe ausbrachen, wie sich vielfältigste Formen sozialer Gegenmacht artikulierten, deren antagonistischer Kontrahent der Komplex von Gewalt und Verwertung war, den jener Staat verkörperte, waren wir imstande, den Mythos nationaler Unabhängigkeit und den ihm immanenten, alle Differenzen homogenisierenden Volksbegriff zu relativieren. [...] Wir durften uns mit den völkisch- ethnischen Parolen nicht zufrieden geben, auf denen das unartikulierte Miteinander von KämpferInnen und Kommandanten basierte, waren es doch gerade jene, die als Kader unter den Bedingungen des Krieges die Instanzen und Formen zukünftiger Ausbeutung und Zurichtung schufen. Wir konnten nicht länger ignorieren, daß es wiederum die Männer waren, die in Gestalt des befreiten Nationalstaats die Schaltstellen der Verwertung besetzten und damit zugleich einen erneuten Anlauf unternahmen, die Kontrolle über die Frauen und die Reproduktion zurückzugewinnen. Wir mußten den Mythos des Volkskrieges auf seine revolutionären Qualitäten hinterfragen und ihn in seiner Doppelheit als Moment der Befreiung und als Form zerstörerischer Rationalisierung neu begreifen — einer Rationalisierung, zu deren ersten Opfern die Flüchtlinge ebenso gehörten wie die Frauen und Kinder in den Auffanglagern an den Grenzen zu den umkämpften Gebieten. Wir mußten — kurzum — brechen mit allen Facetten des leninistisch-stalinistischen Verständnisses nationaler Befreiung, das von Beginn an die Politik der KOMINTERN bestimmten und das wir uns im Zuge der Rezeption des Marxismus-Leninismus Anfang der siebziger Jahre eingehandelt hatten. [...]

Gerd hatte in der Zeit nach Entebbe im Knast gesessen. Er war bei dem Versuch, ein Kino in Brand zu stecken, in dem der Film über die Flugzeugentführung seinerzeit lief, von einer Observationsgruppe beobachtet und einen Tag später — im Januar 1977 — verhaftet worden. Vor dem Düsseldorfer Oberlandesgericht wurde er wegen versuchter Brandstiftung und Mitgliedschaft in den RZ zu fünf Jahren Knast verurteilt. Als er Ende 1981 wieder rauskam, traf er bei uns auf eine gänzlich veränderte Situation. Den Bruch, den wir mit diesem Teil unserer Geschichte vollzogen hatten, hat er für sich nie akzeptiert.

Er teilte die Kritik anderer GenossInnen, mit denen es aufgrund der von uns beschlossenen Loslösung aus den internationalen Verbindungen harte Auseinandersetzungen gab, die bis zur Trennung gingen. Die Reduktion auf den eigenen Zusammenhang empfand er als Schwächung, die Betonung der politischen Differenz als Spaltung. Der Preis, den wir für die Hervorkehrung unserer Autonomie bezahlten, sei das Verschwinden in der Bedeutungslosigkeit. Der freiwillige Verzicht auf die Umsetzung eines konkreten Antiimperialismus mache nicht nur unseren revolutionären Anspruch zur Farce, er komme zugleich einer Kapitulation vor ganz praktischen Anforderungen wie der Erhaltung der Option auf Gefangenenbefreiung, der Sicherung von Rückzugsmöglichkeiten oder der Bewahrung eines bestimmten Aktionsniveaus gleich. Es sei eine Fiktion zu glauben, die RZ könnten aus eigener Kraft den Aufgaben nachkommen, die wir uns gestellt hätten. Überdies werde der Bruch einen Verlust an subjektiver Radikalität zur Folge haben; er sei jetzt schon eher unserer Kleinmütigkeit als einer wirklichen Notwendigkeit geschuldet. Für den trügerischen Vorteil einer „reinen Weste“ hätten wir die RZ auf das Niveau linker Kleingruppenmilitanz gebracht und den Guerilla-Anspruch über Bord geworfen. Unsere „Selbstkritik“ in Sachen Entebbe und danach sein Dokument verlogener doppelter Moral, die nur haltbar sei, weil wir andere Realitäten aus unserer Wahrnehmung vollkommen ausblendeten. Es sei ein verkehrtes Wunschbild und zugleich zynisch gegenüber tatsächlichem Leiden, wenn wir revolutionär sein und selbst vor allem saubere Finger behalten wollten. Politik funktioniere nicht nach den Maßstäben zwischenmenschlicher Moral. Der Bruch, so prophezeite er uns, würde das rasche Ende der RZ einleiten.

Gegenüber unserer Entscheidung hielt Gerd fest an der Idee eines unmittelbaren Bezugs auf den palästinensischen Widerstand, nicht zuletzt, weil er sich von der dort erfahrenen Solidarität und subjektiven Radikalität angezogen fühlte. [...] Wo wir uns auf das scheinbar sichere Terrain einer politischen Praxis zurückgezogen hatten, die wir für überschaubar hielten, suchte er umfassendere Lösungen. [...] Er bewahrte die alten Kontakte, weil er es wollte und weil er sich den GenossInnen dort gegenüber in der Verantwortung wußte, vielleicht aber auch in der unausgesprochenen Erwartung, daß wir uns eines Tages eines Besseren besinnen würden und er die abgebrochenen Kontakte wieder knüpfen könnte. [...]

Dem Puritanismus und Rigorismus mancher Linker, die irgendwann darüber lamentieren, daß sie einen Teil ihres Lebens der Revolution geopfert haben, mißtraute er zutiefst. Was bei oberflächlicher Betrachtung den Eindruck von Unstetigkeit erweckt haben mag, war die Lust, in Widersprüchen zu leben, die geboren war aus der Gewißheit, daß der geradlinige Weg mathematisch zwar die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten, politisch aber mit Sicherheit nicht der schnellste und beste Weg zum Erfolg ist. [...] Er arbeitete als Angestellter der Grünen im Europaparlament und verfaßte Reportagen für den WDR, in denen er sich gleichermaßen mit Fragen der Sicherungsverwahrung wie mit verbotenem Glücksspiel oder Triathlon auseinandersetzte. Er engagierte sich in der Knastgruppe, schrieb und besuchte gefangene GenossInnen, wirkte bei der Gründung der Zeitung 'Bruchstücke‘ und pflegte in einträglicher Weise seine Kontakte zu ehemaligen Mitgefangenen, die inzwischen auf freiem Fuß waren. Er lebte offensiv als Schwuler, organisierte Veranstaltungen zum Thema Aids und genoß die Schwulenszene auf Ibiza. Er veröffentlichte Texte über die Politik Israels und übernahm Aufgaben, die sich aus seinen internationalen Kontakten ergaben. Er lebte mitten in der Düsseldorfer Politszene und entzog sich ihr, wenn ihm der legale Handlungsrahmen zu eng wurde. Er kritisierte die Halbherzigkeit der RZ und half uns vorbehaltlos, wo es in seinen Möglichkeiten stand. Er hat bei vielen Erwartungen geweckt und zwangsläufig nur einen Teil erfüllt. Wer ihn ganz wollte, wurde immer auch enttäuscht.

Als Gerd im November 1987 zu einem Treffen mit der Gruppe fuhr, tat er dies auf eigenes Drängen. Die Tatsache, daß ihm unmittelbar nach seiner Ankunft der Prozeß gemacht wurde, muß ihn vollkommen unvorbereitet getroffen haben. Er kann sich keines Fehlers, keines Versäumnisses bewußt gewesen sein. Andernfalls hätte er die Reise mit größeren Bedenken angetreten, weil er sich über den Kodex und die Regeln in der Gruppe keinerlei Illusionen machen konnte und sie akzeptierte.

Wir wollen keine Spekulationen anstellen über die Beweggründe derer, die seinen Tod zu verantworten haben. Offensichtlich ist nur, daß hier Maßstäbe aufeinanderprallen, die zweierlei Welten entstammen. Unter Bedingungen, die von der Logik des Krieges diktiert werden, zählen unbedingte Gefolgschaft und Bereitschaft zur Unterordnung, dort stoßen Ansichten und Verhaltensweisen, die nicht mit den gewohnten Mustern übereinstimmen, auf Mißtrauen und Ablehnung. Wo das alltägliche Leben von militärischen Angriffen, vom permanenten Ausnahmezustand, von Ausgangssperren, Verhaftungen und Folter bestimmt ist, sind die Fronten klar. Dort ist wenig Raum für Ambivalenzen, die der metropolitanen Herkunft geschuldet sind, dort muß die Frage nach der eigenen Person fast lächerlich klingen. Was hier als Suche, als Probieren, als Ringen um neue Impulse nicht nur seine Berechtigung hat, sondern unbedingt erforderlich ist, sieht sich dort schnell des Verdachts der Unentschlossenheit, der Zögerlichkeit, der Abweichung ausgesetzt. Vom Zweifel an der Loyalität zum Vorwurf des Verrats aber ist es nur ein kleiner Schritt, samt der mörderischen Konsequenzen, die damit verbunden sind.

Und dennoch finden wir eine solche Erklärung falsch, sie ist vordergründig und kurzsichtig. Sie legitimiert eine bewußte Entscheidung mit dem Zwang der Verhältnisse und erklärt die zu Opfern ihrer Handlung, die sie doch begangen haben. Die Erfahrung der Grausamkeit des Gegners enthebt niemanden der Verpflichtung, zu jedem Augenblick Auskunft über die Mittel und Methoden geben zu können, die er selbst anwendet. [...]

Nein: Die Bereitschaft zur Ermordung eines Genossen läßt sich nicht mit der Härte der Bedingungen entschuldigen, sie ist Ausdruck einer politischen Programmatik, deren einziger Gehalt die Erringung der Macht und deren Sprache die der künftigen Despoten ist. Die Geschichte ist voll von Beispielen revolutionärer Organisationen oder Bewegungen, die unter vergleichbar brutalen Bedingungen kämpfen mußten, ohne daß sie sich — unter Berufung auf die Niedertracht des Gegners — dessen Methoden zueigen gemacht haben. Daß dies der geringere Teil ist, daß die Mehrzahl der bolschewistischen Parteien und nationalen Befreiungsorganisationen nach der Devise verfahren ist, daß der Zweck die Mittel heilige und gegen den Feind alles erlaubt sei, wenn es nur der Sache dient, ist kein Gegenargument. Es ist dies eine politische Auseinandersetzung, die ihre historischen Bezugspunkte in der Pariser Kommune ebenso wie in der Oktoberrevolution oder im Spanischen Bürgerkrieg hat. Wo der Sieg zum Maßstab aller Dinge wird, werden nicht nur die besten, sondern auch die schlimmsten Kräfte frei. Wer die Macht, koste es, was es wolle, erringen und sie um jeden Preis verteidigt, untergräbt sie im selben Moment. Die Perversion der Revolution, schrieb Rosa Luxemburg an die Adresse der Bolschewisten, ist schlimmer als ihre Niederlage. Das Argument des Erfolgs, auf das die orthodoxen Kommunisten jahrzehntelang gegenüber den „romantischen Verlierern“ aus den libertären Gruppen gepocht haben, erweist gerade dieser Tage seine Unzulänglichkeit. Daß sich hier auch eine Männerwelt austobt, daß es immer auch darum geht, obsolet gewordene Machtbastionen und Einflußsphären gegeneinander wie die Ansprüche von unten abzuschirmen, und daß in einer solchen Welt eine schwule Identität per se auf Argwohn stößt, können und wollen wir nicht länger ignorieren. Weil wir dies gelernt haben und weil wir uns lieber in der Tradition der spanischen AnarchistInnen als in der der KOMINTERN sehen, verwehren wir uns gegen alle beschönigenden Reden, die sich auf die Gesetze des Krieges berufen. [...] Daß wir die Gewalt in den eigenen Reihen bislang tabuisiert haben und uns erst jetzt drüber entsetzen, wo sie uns selbst ereilt, ist eine Kritik, die wir uns gefallen lassen müssen. Wir haben keine Entschuldigung dafür. Erst der Tod von Gerd hat uns für das Ausmaß der Tragödie empfindsam gemacht, die es bedeutet, daß auch innerhalb revolutionärer Organisationen politische Fragen mit militärischen Mitteln beantwortet werden. [...]

Ein Einwand gegen revolutionäre Praxis überhaupt ist sein Tod jedoch nicht. Das Wissen um die Gewalt in den eigenen Reihen ist uns Grund zum Einhalt, zur Trauer, zur Verzweiflung, nicht aber eine willkommene Gelegenheit, um das Handtuch zu werfen und unseren Frieden mit den Verhältnissen zu schließen. Wer uns so versteht und meint, wir würden nun, wo es einen der unseren getroffen hat, in das Horn derer blasen, für die Terror schon immer ein normales Mittel des politischen Geschäfts war, befindet sich auf dem Irrweg. Die Selbstgefälligkeit und Heuchelei jener Bürger, die gerade jetzt genußvoll in den Wunden revolutionärer Bewegungen wühlen und sich darin überbieten, Spuren für ihren moralischen Verfall ausfindig zu machen, während sie geflissentlich übersehen, auf welchen Leichenbergen der von ihnen geschätzte westliche Wohlstand und das als Schlachtruf zu neuen Ehren gekommene System der Demokratie errichtet sind, stoßen uns lediglich ab.

Die Auseinandersetzung, die die Ermordung von Gerd ausgelöst hat, spielt sich diesseits der Barrikade ab. Sie wird sich mit dem Zusammenhang von Politik und Moral, dem Gegensatz von nationaler Souveränität und sozialer Befreiung und dem Unterschied zwischen revolutionärer Gewalt und Terror zu befassen haben. Zur Disposition steht jenes leninistische Erbe, das sich in unsere Köpfe eingegraben hat und unser politisches Denken stärker bestimmt, als uns oftmals bewußt ist. Der Rekurs auf die Geschichte kann die Schwierigkeiten, vor denen wir hier stehen, ebensowenig lösen wie der emphatische Bezug auf die weltweiten Kämpfe. Gerade weil revolutionäre Politik in einem Land wie der BRD so isoliert ist, muß sie sich immer wieder eines sozialen Orts versichern, will sie mehr sein als der bloße Ausdruck der subjektiven Befindlichkeit ihrer Akteure oder der schwache Abglanz ideologischer Konstrukte. Wie schnell all die schönen Worte und die besten Absichten zu bloßer Makulatur werden, sobald wir uns nicht mehr auf eine konkrete Realität beziehen, sondern an Forderungen orientieren, die ihren Ursprung in anderen Bedingungen haben, davon zeugt nicht zuletzt dieses Kapitel unserer Geschichte. [...] Revolutionäre Zellen Dez. '91