Dies eiskalte Händchen

Peter Konwitschny inszenierte „La Bohème“ in Leipzig  ■ Von Frieder Reininghaus

Kühl war es an der Pleiße. Der See der Tränen vor dem Völkerschlachtdenkmal fest gefroren. Die Kinder liefen Schlittschuh. Winter erst recht auf der Bühne der Leipziger Oper: ein edler Winter. Klare Dezembernacht über Paris — tausend Sterne funkeln auf dem schweren Hintergrund über den Lichtstraßen der Hauptstadt des 19.Jahrhunderts. Die Lichterketten verdichten sich einem Mittelpunkt zu: Die Nachtwelt hat ein Zentrum. Und die Nachwelt den Mythos.

Dort hinten also, vor dieser Projektionsfläche wohl selbst noch heutiger Sehnsucht, die Straßenschluchten, über denen die Bohème haust. Eine Staffelei, ein Bett, ein fest geschnürtes Bücherbündel, ein zum Ofen umfunktionierter alter Wäschezuber müssen genügen, die karge Welt des Malers Marcello und seiner Freunde, des Gelegenheitsdichters Rodolfo, des etwas erfolgreicheren Musikers Schaunard und des gänzlich brotlosen Philosophen Colline anzudeuten. Das reicht auch. Man lebt recht edel in solcher Armut in Leipzig. Die vier Herren tragen teures Tuch. Der Ausstatter Johannes Leiacker ließ ihnen neue Fräcke, gutgebügelte Hosen, blütenweiße Hemden verpassen. Wir wissen nicht, ob die von jenem Quartett versuchten Künste geistigen Adel besaßen. Wenn das jedoch der Fall war, dann ist jetzt die mentale Nobilität auf das Outfit übergegangen. Insofern scheinen sie ganz junge Männer unserer Zeit.

Außer dem Winter herrscht auch das 19.Jahrhundert auf der Leipziger Bühne: Es etablieren sich Bilder, die an Schwarzweißfilme über die Lebenszeit der Traviata und ihrer kleinen Schwester Mimi erinnern. Sehr edle Bilder, gewiß. Jeder der wenigen Ausstattungsgegenstände wirkt stimmig: die Caféhaus-Tischchen bei Momos und der Muff, der zu spät kommt; die Deckenleuchten, die an die Bahnhofswartesäle der Jahrhundertwende gemahnen und deren Vermehrung zu Beginn des dritten Bildes die Barriere markiert, an der die Zöllner die im Schneetreiben frühmorgens nach Paris Hineinströmenden kontrollieren (partout nichts soll, wo das Libretto Gitter vorschreibt, an innerstädtische Grenzen neuerer Zeit erinnern).

Über Momos' Tischchen und dem in Einkaufsfreude sich tummelnden Volk prangen Glühlampenketten, wie sie in der Vorweihnachtszeit die Zugänge zu den Einkaufsparadiesen deutscher Innenstädte schmücken. Auf schmalem Grat in der Höhe eine engelsgleiche Seiltänzerin. Siehe, sie verkündigt — nonverbal — große Freude, die allem Volke widerfahren wird. Die ruhigen Bewegungen dieser Kunstturnerin, die sich in traumwandlerischer Sicherheit vollziehen, dürfen als Sinnbild von Peter Konwitschnys Puccini-Produktion gelten: Da bewegen sich lauter Leute über dem Abgrund. Ohne Netz und doppelten Boden. Sie tun es mit Grazie und in den Wechselbädern einer konsequent illustrativen Musik.

Auch bei Puccini ist das Treiben des Volkes auf der Opernbühne in der Regel -tümlich. Noch erscheint es guten Glaubens. Der ist dem Regisseur Konwitschny zumindest partiell abhanden gekommen: Die Masse ist und bleibt uniform gefangen in der Zone der Geschenkpakete. Der Tambourmajor, „der schönste Mann von Frankreich“, kommt als überdimensionaler russischer Nußknacker auf die Bühne gewackelt, umringt von einer Blaskapelle von Berufsweihnachtsmännern. Musette aber, während der Staatsrat Alcindoro abgelenkt wird, „tut, was ihr paßt“ — läßt sich von einem der Bohèmiens auf den Steg zwischen Orchestergraben und Parkett legen und zur Brust nehmen.

Das hochgesteckte Ziel im kurzen Leben des Gelegenheitsautors Henry Murger war, „ungeschminkte Wahrheiten“ zu Papier zu bringen und den satuierten Bürgern vor die Nasen zu halten. Wie Giacomo Puccini, so gehörte auch er zu den Männern, die selbst das Leben der Bohème lebten. Als Neunzehnjähriger klagte er einem Freund in einem Brief, er müsse in Socken ausgehen, da das Geld für Stiefel nicht reiche. Und als er in einer Kinderzeitschrift einige Texte untergebracht hatte, stimmte er den Refrain an: „Bald geht's gut, bald geht's schlecht. Heute besser, morgen schlechter.“ Murger wußte, wovon er schrieb, wenn er die Schwindsucht als die tödliche Massenseuche seiner Epoche schilderte. Er wurde nur 38 Jahre alt und lag häufig im Spital. 1846 erschienen seine Szenen des Pariser Bohème-Lebens in einem satirischen Blatt, drei Jahre später wurden sie dramatisiert, übersetzt und auf diese Weise nach Deutschland und Italien transportiert.

Auf dem Weg der Berarbeitungen ging den Szenen so manches von der ursprünglichen Schärfe, der Klarheit verloren. Im Gerangel zwischen dem Librettisten Luigi Illica und dem Komponisten Puccini spiegelt sich bereits das (fehlende) Problembewußtsein für das wachsende Defizit — Puccini verlangte, daß die Trennung zwischen Rodolfo und Mimi nicht auf der Bühne gezeigt wird (man muß sie sich zwischen dem zweiten und dem dritten Bild denken). Das nach Murgers Roman „Wesentliche, nämlich eine Freiheit in Liebesangelegenheiten“ (Illica) wurde von Puccini abgebogen, entschärft, neutralisiert. Ein wenig suchte Konwitschny durch Simultanszenen am Rand der vom Gesang getragenen Handlung die Sache wieder zurechtzurücken.

Kühl ist's in Leipzig, wie berichtet. Kühl bis ans Herz auch dieseBohème-Inszenierung: edelkühl. Zartbitter. In den beiden ersten Bildern finden sich diskrete ironische Brechungen der Rührgeschichte mit der allerrührseligsten Musik. Nachdem zum Beispiel Rodolfo dies eiskalte Händchen gefaßt hat und die unsterbliche Linie seiner Gesangspartie sich in die Höhe hebt, macht der zweifelhafte Held einen entscheidenden Ausfallschritt auf das Orchester, den Kapellmeister Stefan Soltesz und das erwartungsfrohe Publikum zu: Den Höhepunkt seiner Nummer drückt Leith Olson, bestimmte Bräuche in gewissen Opernhäusern persiflierend, direkt an der Rampe und mit Blick zur Galerie ab.

Im dritten Bild erscheint eine der Damen aus dem Lokal „Zum Hafen von Marseille“. Sie kann sich und das zu sich Genommene nicht mehr halten. Der Apercu deutete an, daß das berauschte Leben womöglich so rauschend nicht ist. Mit dieser hingekotzten Einlage hat sich Konwitschnys kritisches Potential dann erschöpft. In edler Schönheit geht die so natürlich und sympathisch wirkende Mimi an der Rampe zugrunde. Sie ist die zarte Pflanze, welche den harten Winter nicht übersteht. Kathleen Casello war bei der Leipziger Premiere von ihrem Bühnentod und dem ihr von der Inszenierung entgegengebrachten Mitleid so ergriffen, daß sie zum Beifallssturm einige Tränen abdrückte.

Die Ovationen galten den Sängern, die insgesamt ihre Sache gut bis sehr gut machten. Sie galt — mit kleinen Einschränkungen — dem beständig um größtmöglichen Ausdruck, scharfte Kontraste und deutlichen Effekt bemühten Soltesz. Vor allem auch dem Ausstatter und dem Regisseur. Sie alle im Verein bescherten den Leipzigern eine vorweihnachtliche Bescherung, mit der das Premierenpublikum über die Maßen glücklich und zufrieden war, die dankbar angenommen wurde.

Freilich kam mir diese Bohème- Produktion vor wie eines der Arrangements in einer der innerstädtischen Passagen: Unter einem schlichten Weihnachtsbaum liegen da Dutzende von Päckchen und Pakete, eingeschlagen in edelstes Paier. Sie dürften hohl und leer sein. Peter Konwitschny mag das empfunden haben. Er wolle La Bohème noch einmal und ganz anders inszenieren, sagte er nach der Premiere: mit alten Sängern, für die die in Puccinis Oper doch noch enthaltenen Probleme der nicht überdauernden Kunst und des bald endenden Lebens realer seien als für die jungen Solisten, mit denen er in Leipzig arbeitete.