Auftakt für ein schweres Jahr

■ Das Scheitern der Stahl-Tarifrunde ist ein Signal für 92

Auftakt für ein schweres Jahr Das Scheitern der Stahl-Tarifrunde ist ein Signal für 92

Eigentlich gehört die Tarifauseinandersetzung in der westdeutschen Stahlindustrie noch zur Lohnrunde des Jahres 1991, einem Jahr der Hochkonjunktur, der Gewinnexplosion für die

Unternehmen, wachsender Belastungen durch Steuererhöhungen und Teuerung für die abhängig Beschäftigten. Kein Wunder, daß die Stahlarbeiter sich mit ihrer Forderung von 10,5 Prozent einen Anteil am Kuchen herausschneiden wollen, der auf eine reale Einkommensteigerung hinausläuft. Aber das Scheitern der Verhandlungen nach der sechsten Gesprächsrunde ist ein Signal dafür,

daß in der Stahlindustrie zu einem gewissen Teil

schon die Tarifauseinandersetzung des Jahres

1992 eingeläutet wird — einem Jahr, dem bisher

eher dürftige wirtschaftliche Prognosen mit geringen Verteilungsspielräumen vorhergesagt

werden.

Gerade in der Metall- und Stahlindustrie waren die letzten zehn Jahre vom Kampf um Wochenarbeitszeitverkürzung, um die 35-Stunden-Woche gekennzeichnet. Die ist inzwischen in beiden Branchen vertraglich gesichert und wird in Stufen bis Mitte der neunziger Jahre realisiert. Es war eine Strategie der Arbeitsumverteilung, eine gewerkschaftliche Strategie gegen die ausgrenzenden Kräfte des herrschenden Wirtschafts- und Beschäftigungssystems, die von den Beschäftigten mit einem Verzicht auf realisierbare Einkommenszuwächse bezahlt wurde. Die Arbeitszeit wurde zwar verkürzt, aber beim Lohn blieb es in all den Jahren in etwa beim Inflationsausgleich. Das ist ein weiterer Grund dafür, warum die Stimmung in den Betrieben derzeit eindeutig in Richtung cash geht.

In den meisten Branchen wurden 1991 Abschlüsse um die sieben Prozent durchgesetzt, was bei einer Inflationstrate von vier Prozent und zusätzlichen Steuererhöhungen kaum als fühlbare Einkommensverbesserung zu Buche schlägt. Wollen die Stahlarbeiter für sich ein gleiches Ergebnis erzielen, werden sie — wie sich jetzt zeigt — womöglich streiken müssen. Denn für die Unternehmer zählt bei Lohnverhandlungen nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft. Die ist bei abflauender Konjunktur eher mau. Für sie gilt deshalb die Parole, die Wirtschaftsminister Möllemann seit Wochen für die Tarifrunde 92 ausgibt: „keine Fünf vor dem Komma“. Die Leitzinserhöhung der Bundesbank zielt in dieselbe Richtung: Druck auf die Lohnabschlüsse. So zeichnet sich die Koalition für das kommende Jahr ab: Politik, Bundesbank, „Wirtschaftsweise“ vereint gegen die Gewerkschaften. Für die wird es ein schweres Jahr. Martin Kempe