Sofia: Knast für Atom-Vertuscher

Sofia (taz) — Nach einem spektakulären Gerichtsprozeß hat ein Gericht in Sofia zwei ehemals hohe Funktionäre zu Haftstrafen verurteilt, weil sie der Bevölkerung 1986 die Gefahren durch das Atomunglück in Tschernobyl verschwiegen. Gregor Tschtoischkow, damals stellvertretender Vorsitzender des Ministerrates und Mitglied des Zentralkomitees der regierenden Kommunisten, und Lubomir Schinderow, ehemals Landeshygienedirektor und stellvertretender Gesundheitsminister, müssen für drei und zwei Jahre hinter Gitter.

Das Gericht war überzeugt, die beiden Funktionäre hätten den BulgarInnen die Katastrophe im nur 1.000 Kilometer entfernten Tschernobyl vorsätzlich verschwiegen und außerdem die Vorschriften zur Strahlensicherheit verletzt.

Auch in Bulgarien, vor allem in Sofia, fanden am 1. Mai 1986, wenige Tage nach dem Reaktorunglück die traditionellen Maiaufmärsche statt. Arbeiter und Bauern jubelten in strömendem Regen ihrem Diktator Theodor Schiwkow und seinem Gefolge zu, obwohl schon seit dem Vortag eine radioaktive Wolke über dem Land hing.

Erst am Tag nach den Aufmärschen erklärte Landeshygienedirektor Schinderow, daß in einigen Teilen des Landes eine Erhöhung der natürlichen Radioaktivität festgestellt worden sei. Sein Kollege Schtoitschkow versicherte den Menschen im Land aber weiterhin über Rundfunk und Fernsehen, es gebe „keinen Grund zur Besorgnis“.

Gleichzeitig hatten die Funktionäre bereits damit begonnen, ihre eigenen Nahrungsmittel aus dem Ausland einfliegen zu lassen. Und in der Armee wurden vorsorglich Schutzmaßnahmen gegen die Verstrahlung unternommen. Die Belastung in Bulgarien erreichte zeitweise das 10.000fache bis 50.000fache der normalen Strahlenwerte. Heute gilt das Unglück in Bulgarien als große Tragödie in der Geschichte des Landes.

Vor Gericht zeigten sich die Angeklagten völlig unbeeindruckt von den Vorwürfen. In ihren Aussagen aber auch bei Interviews vor laufenden Fernsehkameras außerhalb des Gerichtssaals, beteuerten sie trotz der erdrückenden Beweislast immer wieder ihre Unschuld. Ihre Mittäter aus der damaligen KP-Nomenklatura schwiegen sich völlig aus. Die bulgarischen Mütter und Väter allerdings, die Angst vor künftigen Leukämieerkrankungen ihrer verstrahlten Kinder haben, nennen die Verurteilten in der Öffentlichkeit „Mörder“. Ralf Petrov