Grabenkämpfe in der Regierung Rußlands

Jelzin weilt in Italien, und sein Vizepremier fährt ihm in die Seite/ Moskaus Bürgermeister droht mit Rücktritt/ Rußlands Parlamentspräsident muckt auf/ Die Kritik am neuen starken Mann wächst/ Nimmt Rutskoi Jelzin in den Würgegriff?  ■ Aus Moskau K. H. Donath

Die Weltöffentlichkeit ist beschäftigt. Sie bereitet sich auf die Trauerfeiern für die untergegangene Sowjetunion vor und harrt des weiteren Schicksals ihres ungewollten Totengräbers Gorbatschow. Währenddessen weilt Rußlands Präsident Jelzin, der den letzten Nagel in den Sarg getrieben hat, schon auf einer Auslandsvisite. Noch vor der Beisetzung tritt er demonstrativ das Erbe an.

Zu Hause im energieknappen Moskau entwickeln indes die seit Wochen vor sich her schwelenden Brände eine ungeahnte Hitzewelle. Die russische Regierung, im September erst zusammengeschweißt, befehdet sich untereinander. In der Geschichte der russischen Intelligenz nichts Ungewöhnliches — Fortschrittsprotagonisten geraten sich in die Haare, sobald der Gegner geschlagen scheint. Man blockiert sich gegenseitig und empfindet nicht einmal Scham ob der Unproduktivität. Die Zwistigkeiten zwischen den Fraktionen im Jelzin-Team galten immer schon als ein offenes Geheimnis. Da sind die Moskauer Intelligenz, die Jelzin nach dem Putsch um sich sammelte, und jene Pragmatiker, alte Kameraden, die der Präsident aus seiner politischen Heimat Swerdlowsk als loyale Stützen in die Hauptstadt beorderte. Die Dritten im Bunde stellen die konservativen Parlamentarier des Obersten Sowjets der Russischen Föderation.

Die Konflikte zwischen den Fraktionen liegen lange offen. Dennoch schaffte es Jelzin im November, ein ambitioniertes Reformprogramm vorzustellen. Mit seiner Realisierung sollte bereits am 16. Dezember begonnen werden: Freigabe der Preise und Einführung einer Mehrwertsteuer. Dann verschob man es auf den 1. Januar. Die befürchteten Reaktionen der unzufriedenen Bevölkerung können nicht allein den Verzugsgrund erklären. Denn im neuen Jahr werden die Russen nicht zufriedener sein.

Moskaus Bürgermeister nannte den erneuten Aufschub der Reformen als ein Motiv, warum er entschlossen sei, von seinem Amt zurückzutreten. Noch taktiert er mit seiner Drohung. Deutlich offenbart sich aber der Zwist mit der russischen Führung. Und auf dem Kongreß der Demokratischen Bewegung Rußlands, der Dachorganisation verschiedener politischer Parteien und Gruppierungen, der namhafte Demokraten wie Sobtschak, Schewardnadse und Popow präsidieren, wurden Forderungen laut, sich nicht in eine Regierungsagentur zu verwandeln, sondern den Boden einer tragfähigen Opposition zu schaffen. Popow kritisiert auch ansonsten das Reformkonzept, das mit der Freigabe der Preise beginnt, Privatisierungsvorhaben aber auf die lange Bank schiebe.

In Moskau, obwohl ausgestattet mit Sondervollmachten, lief Popow gegen eine Phalanx von Verhinderungspragmatikern. Nicht zuletzt der Oberste Sowjet versucht, die Macht der Exekutive zu beschneiden. Würden Entstaatlichung und Privatisierung weiter hinausgezögert, werde sich die Regierung bald einer Welle von Arbeiterprotesten ausgesetzt sehen, die nur für ihre Interessen kämpfen. Außerdem müsse man endlich die Bahnen des Populismus verlassen und politische Mechanismen schaffen, die einen Rückgriff auf populistische Taktiken überflüssig machten. Schon schicken sich die alten Gewerkschaften an, aus der Unzufriedenheit politisches Kapital zu schlagen.

Aus ähnlicher Richtung, aber mit anderen Intentionen attackierte Rußlands Vizepremier Alexander Rutskoi den Präsidenten. Der Afghanistan-Veteran und Kampfflieger verhalf Jelzin im Sommer zur Wahl des Präsidenten. Dann stand er mit ihm gemeinsam auf den Barrikaden. Zuvor hatte er vergeblich versucht, innerhalb der KPdSU eine Demokratische Partei der Kommunisten aus der Taufe zu heben. Für Jelzin war der couragierte Haudegen Gold wert, denn er brachte Stimmen aus der Armee und dem militärisch-industriellen Komplex mit. Diesen sollte er mit Jelzin versöhnen. Den Trumpf scheint Rutskoi jetzt ausspielen zu wollen. Vor Vertretern des Militärs und des nach wie vor einflußreichen Komplexes schwärzte er die Regierungsvertreter als „grüne Jungs“ an, denen es an Pragmatismus gebräche. „Wir gehen nicht auf die Marktwirtschaft, sondern auf Anarchie zu... Der russische Präsident kümmert sich mehr um den Machtkampf als um das Wohlergehen der Menschen“, säuselte er in die gespitzten Ohren der alten Kaste, der eine harte Zeit bevorsteht. Denn die Aufträge an die Rüstungsindustrie werden bescheiden ausfallen. Doch Millionen von Arbeitern sind mit ihr verbunden. Das nutzt Rutskoi, um populistisch hinzulangen. Parallel dazu soll er sich in Zirkeln der ehemaligen Nomenklatura bewegen, die ihrerseits für den Tag X ein Programm des „Auswegs“ vorbereite. Ein Schulterschluß Rutskois hieße Alarm für Jelzin. Sich seiner zu entledigen könnte allerdings unliebsame neue Koalitionen schaffen, etwa mit dem militärischen Komplex und den alten Gewerkschaften. Damit könnte er eine Lawine ins Rollen bringen. Fest steht, Rutskoi fühlte sich von Jelzin nicht angemessen berücksichtigt, und dieser muß jetzt fürchten, von ihm in den Würgegriff genommen zu werden.