Vorweihnachtliche Konsumfreuden in West und Ost: Gold, Weihrauch, Myrrhe
■ ...oder Geld, Weihnachten, Irre. Anders als früher geben die Deutschen heute das ganze Jahr über ihr Geld aus. Zumindest diejenigen, die es haben. Mit zunehmendem..
Gold, Weihrauch, Myrrhe ...oder Geld, Weihnachten, Irre. Anders als früher geben die Deutschen heute das ganze Jahr über ihr Geld aus. Zumindest diejenigen, die es haben. Mit zunehmendem Wohlstand kaufen die Leute immer dann, wenn sie kaufen wollen. Wer wartet schon wegen eines läppischen Kaschmir-Pullovers bis Weihnachten. Nur die Kinder müssen sich gedulden.
Die entspannten, begeisterten, kinderlosen WeihnachtseinkäuferInnen aus der Fernsehreklame, die in Zeitlupe durch eine superschicke Parfümerie swingen — ich hab' sie nicht finden können. Jedenfalls nicht in Bochum. Nur die 21jährige Anglistikstudentin Anke Neumann findet „es eigentlich ganz schön“, durch die Stadt zu gehen, sofern es „nicht so eklig voll ist“, und sie weiß, was sie schenken will: „Die Idee ist das Schwierigste.“ Besonders in einer elfköpfigen Familie.
Christel Heiter dagegen, unterwegs mit ihrer erwachsenen Tochter und um die Mittagszeit bei Grillhähnchen und Salat im „Kochlöffel“ pausierend, ist „im Streß“. Sie kauft immer erst kurz vor Weihnachten, „weil's dann billiger ist“. Für sie ist nicht die Idee, sondern die Umsetzung das Schwierigste: Mehr als 400 Mark für alle, einschließlich Nichten und Neffen, darf der Spaß nicht kosten. Was Christel Heiter machen wird, wenn die Kleinen, die heute noch mit Puppen zufrieden sind, sich den unvermeidlichen Computer wünschen, weiß sie nicht. Ein Wuppertaler Busfahrer, der „nur so“ die „vedes“-Prospekte im überlaufenen Spielzeuggeschäft studiert, hat seine Lösung gefunden. Er wird Weihnachten arbeiten. „Ich kauf' schon seit Jahren nichts mehr und schenk' auch nichts. Is' mir zu blöd, das Rumgerenne jetzt.“ Der Mann hat keine Kinder.
Daß der Busfahrer aus dem Bergischen nicht repräsentativ ist, zeigen die Zahlen. 26,4 Milliarden Mark gaben die Westdeutschen in der diesjährigen Vorweihnachtszeit aus, noch eine Milliarde mehr als im vergangenen Jahr. Eine Milliarde allerdings, so die Strategen vom Hauptverband des Deutschen Einzelhandels (HDE) in Köln, die bezogen auf 800 Milliarden Mark Jahresumsatz nicht als Umsatzsteigerung, sondern nur als „Stabilisierung des Weihnachtsgeschäfts auf hohem Niveau“ anzusehen sei. Östlich der Elbe ist dagegen in diesem Jahr heftigeres Kassenklingeln zu vernehmen als 1990. Der Weihnachtsumsatz stieg von 1,3 Milliarden auf etwa zwei Milliarden Mark. Dies muß aber nicht bedeuten, daß trotz Wirtschaftsproblemen und Arbeitslosigkeit real mehr gekauft wird. Klar ist nur, daß die Ost-BundesbürgerInnen mehr zu Hause eingekauft haben, während sie in den beiden Vorjahren als EinkaufstouristInnen viel Geld in westliche Kassen leiteten.
Der Einzelhandel hat Erfahrung mit den langen Samstagen vor Weihnachten. Am ersten und zweiten gehen die teuren Sachen, die Waschmaschine, der Hifi-Turm, der Pelz, die Uhr, Kleidung. Spielsachen gehen ab Mitte November jeden Tag; diese Branche macht jetzt ein Viertel ihres Jahresumsatzes. Der dritte Samstag gehört Parfüms und Seifen, jenen Ecken im Kaufhaus, wo sich die Accessoires herumtreiben und den SOS-Einkäufen für schwer zu beschenkende Männer: Socken, Oberhemden, Schlipse. Der vierte Samstag, so Hubertus Tessar vom HDE, ist „der Verlegenheitsgeschenksamstag und Lebensmittelsamstag“. Dieser Samstag ist der traurigste.
Am vierten langen Samstag verdichtet sich zur Gewißheit, was die Wohlstands-WeihnachtseinkäuferInnen alle Jahre wieder schon am ersten Adventssamstag spüren können. Kaufen, um zu schenken: keiner mag es, aber alle tun es. Ein paradoxer Sachverhalt, der RedakteurInnen der 'Süddeutschen Zeitung' darauf brachte — wie sie jüngst in einem ihrer begnadeten „Streiflichter“ kundtaten — das Problem auf dem Wege der Vereinsgründung zu lösen: „Gegen Weihnachtsgeschenke e.V.“. Aber die typisch deutsche Lösung griff nicht, es blieb dasselbe Problem: „Alle wollten Vereinsmitglieder werden, aber keiner ließ seinen Einkaufswagen stehen, um geschenklos, aber voll inneren Friedens nach Hause zu gehen.“ Und innere Umkehr ist auch keineswegs die Ursache, wenn West-Yuppies cool ankündigen, man schenke sich in diesem Jahr einfach mal gar nichts. Diese Leute haben sich lediglich vom Zwang zum zeitweisen Konsumverzicht befreit. „Mit zunehmendem Wohlstand“, so Tessar vom HDE, „kaufen Menschen immer dann, wenn sie kaufen wollen.“ Wer wird sich schon wegen eines läppischen Kaschmir-Pullis bis zum Heiligen Abend in Geduld üben? Hier liegt die Erklärung für den prozentual sinkenden Anteil des Weihnachtsgeschäfts am Jahresumsatz von früher neun Prozent auf heute 3,5 Prozent. Nur Kinder müssen noch warten.
Auf Kinder konzentriert sich denn auch in jenen Familien, die die Weihnachts-Kauferei eigentlich abstellen wollen, das Schenk-Geschehen. „Ich kann“, sagt Gaby Beautemps, junge Mutter und Lokaljournalistin in Essen, „dem Kind und den Großeltern die Freude nicht verderben.“ Selbst Kind gewesen zu sein wiederum, bedeutet nicht nur, sich zum Fest an eigene Weihnachtsfreuden zu erinnern. Diese schlichte Tatsache kann sich genauso als Schenkzwang auswirken. Gaby Beautemps empfindet das „auf jeden Fall“ so, weil sie als Einzelkind ohne weihnachtliche Zuwendungen für ihre Eltern „ein schlechtes Gewissen hätte“. Zweifellos ein völlig anderes Gefühl als jenes, mit dem die Könige dem Kind Gold, Weihrauch und Myrrhe an die Krippe brachten, und die Hirten vom Felde einfach mit leeren Händen kamen.
2.000 Jahre danach jedenfalls erledigt Ingrid Dreyer aus Recklinghausen das Thema Geld, Weihnachten und Irre auf der Bochumer Kortumstraße im „möglichst gezielten“ Geschenkespurt in der Mittagspause oder am freien Tag, „niemals aber am Samstag oder am Donnerstag abend“ — denn sie ist selbst Verkäuferin. Und Christel Heiter bringt es in der Verschnaufpause im „Kochlöffel“ zwischen Grillhähnchen und Plastiktüten auf den Punkt: „Egal wo. Zu Weihnachten sind sie alle verrückt.“ Bettina Markmeyer, Bochum
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