Unser allerheiligster Abend

■ Tornado Günter Thews erzählt uns die Weihnachtsgeschichte in neuer Fassong/ Die Heilige Familie beim Weihnachtsgansessen

Die Weihnachtsgans. Da steht sie nun in der Mitte der weißgedeckten Tafel. Goldbraun, so kroß, daß man eigentlich nur Haut essen möchte. Und der Rotkohl! Und die Kartoffeln! Ja, und die Soße? Unbeschreiblich! Und die Füllung!! Bratäpfel, Pflaumen und Mandeln. Der Tannenbaum brennt, der Schmuck schmückt, alles ist bereit, ein neues Mal Weihnachten zu zelebrieren.

Die himmlischen Chöre singen ihre sogenannte »frohe« Botschaft, und nett untergehakt betreten Vater, Mutter und Sohn die Feststube. Die Mutter korrigiert noch rasch die Fliege des Sohnes, und das Rehkitz sieht durchs Fenster. Dann stehen sie da im Lichterglanz. Leise rieselt der Schnee, und das Licht verwandelt sie: eben noch in Duisburg, jetzt auf unserer himmlischen Show-Bühne: die himmlische Familie. Gottvater: »Keine weiteren Lieder! Sonst wird die Gans kalt.«

Die Gans wird fachmännisch zerlegt. Wer will Keule? Ich nehm' den Stiez! Und Gott nagte genußvoll an der Gans, und die Soße wandert zu Mutter Maria, ohne zu kleckern. Sohn Jesus will noch Kartoffeln. Er wußte ja gar nicht mehr, wie traumhaft Kartoffeln sein können. Da ist Gottvater aber weiter. Die Gans isses! Aber natürlich nicht allein. Nein auch der Rotkohl Maria.

Gottvater verlangt, den Fernseher schon mal anzuwerfen, damit man die diesjährigen Weihnachtsfeiern auf dem Planet Erde auf keinen Fall verpaßt. Sohn Jesus möchte lieber auf Pluto die Comic-Olympiade mit Pluto sehen. Mutter sieht es anders: Wir haben nun mal Weihnachten, und da kommt deine Mutti doch immer so groß ins Bild. Da kuckst dir ja auch jede Kreuzigung an. Schnauze! sagt Gottvater. Es geht los. Der Gottesdienst beginnt. Gleich beten sie uns an. Rück doch mal rum, Vater, ich sehe wieder gar nichts.

Ruhe, sagt jetzt Mutter Maria verträumt. Sie lesen wieder die Weihnachtsgeschichte vor. Hört ihr, wie sie mich anbeten, sagt Jesus und legt die Beine hoch. Und? fragt Mutter, wirst du sie erhören? Ruhe! Vater natürlich. Er steht so auf »Stille Nacht«. Was machen denn die anderen? Jetzt nörgelt Jesus. Was sollen die schon machen? Wenn die einen sich unbedingt totlieben wollen, dann hauen se sich auf der anderen Seite den Kopf ein. Mutter hat gut aufgepaßt: Das ist das Gleichgewicht der Erde, mein Sohn, säuselt sie und tätschelt seine Bügelfalte anzüglich.

Ey, springt Jesus auf, kuck mal, da spritzt sich einer Heroin, Mutti. Mutter Maria cool: Na, und kuck mal, da werden Sechslinge geboren. Von nix kommt nix. Ich will noch was trinken, schimpft Gottvater. Gleich kommt ja noch der Weihnachtsmann. Erst die Getränke, dann die Geschenke! Vater murmelt: Egalitätsprinzip, Gleichheit, Egalité — es ist egal. Verstehst du, Jesus?

Die Message ist, es läuft prima. Drei toten Kindern in Osijek stehen achttausend Geburten in China gegenüber. Einer schändet ein Kind, und vierzig amerikanische Babys werden gleichzeitig geküßt. Tja, seufzt Mutter, die Menschen haben's gut, die können nichts falsch machen. Hustenanfall Gottvater, Jesus trocken: das Ozonloch. Gottvater weiter: Eigentlich ist es völlig scheißegal, was die Menschen tun, brummelt er. Und? fragt Mutti Maria, was is, wenn es ihnen egal ist, ob sie an uns glauben? Na und, poltert Gottvater, dann sterben wir eben. Ein ewiges Leben hat auch seine Licht- und Schattenseiten. Spitzlippig Jesus: Is doch egal.

Es klingelt, und der Weihnachtsmann knallt erschöpft seinen Sack in die Ecke. Also die Japaner, fängt er gleich an zu klagen. Also Glauben = Null, Kommerz = 100 Prozent. Egal, solange sie uns brauchen. Dritte Welt natürlich wenig Carrera- Bahnen abgesetzt. Nich schon wieder, haben sie gejammert. Die haben wir doch gerade letzte Woche in der vierten Schicht noch endgefertigt. Und sonst, fragt Gottvater den Weihnachtsmann? Der: Die Deutschen können's am besten. Weihnachten feiern und Fußball. Da sind sie in ihrem Element.

Ein Bier für dich, sagt Gottvater großzügig. Wann fängt denn die Bescherung an? will Jesus wissen. Erst wenn der Weihnachtsmann gut gegessen hat, ruft Mutter und fährt die Reste der Weihnachtsgans wieder auf. Gottvater will auch noch mal 'ne Kleinigkeit naschen. Ich glaube, wir steigen auf Aquavit um, schlägt Gottvater vor. Aber auch der gemütlichste Weihnachtsschmaus muß sich der Bescherung stellen. Ich schenke das, was euch am Leben erhält, spricht der Weihnachtsmann.

Er verteilt drei Kartons, und in dem einen ist die Gier. Nicht schon wieder, die Gier! jammert Jesus enttäuscht. Doch, sagt Mutter, du willst doch immer leiden und leiden und... Na gut, gibt Jesus nach. Im zweiten Karton findet Gottvater den Neid. Das ist was Praktisches, befindet Gottvater. Danke. Aber so viele Bilder, wie von Jesus, gibt's von mir nicht. Das kommt von deinem Pfotographierverbot, kein Bildnis und so, wendet Mutter Maria ein. Jetzt aber Gottvater in Hochform: Also das mußt du gerade sagen, die Mutter von meinen Gnaden, zeig doch mal, was du in deinem Paket hast? Wieso hat sie zwei Schleifen am Karton, will Gottvater vom Weihnachtsmann wissen. Dann ein spitzer Schrei von Mutter Maria: Nein!!! Das darf doch nicht wahr sein.

Gottvater reißt der Mutter Maria den Karton aus der Hand. Dacht ich's mir doch, und triumphierend hinterher: die Eitelkeit! Die Mutter: Ich mag nun mal die Marienbildchen. Ich würd' sie auch sammeln, wenn ich nicht drauf wäre. So, ich hau' jetzt ab, sagt der Weihnachtsmann. Kuckt noch 'n bißchen Erdprogramm. Ich bin der mit dem roten Mantel. Raus jetzt, sagt Gottvater. Gleich kommen noch die Mitternachtsmetten. Die sind besonders geil, findet Jesus. Da sind immer so viel Intellektuelle drunter.

Nun formiert sich der Kreis der Heiligen Familie zum Halbkreis um den Monitor, wieder ertönt »Stille Nacht«. Gottvater grübelt zufrieden: Irgendwas haben diese Deutschen von mir. Was ist, fragt keß Sohn Jesus, gibste jetzt einen aus, wegen Weihnachten? Er fröhlich: Sekt oder Selters, mein Junge? Jesus: Das ist doch scheißegal. Haste auch wieder recht, dann nehm' ich den Sekt. Dann wird Mutter Maria weinerlich. Das beste Zeichen, daß die Feier zu Ende geht.

Die Kerzen sind fast abgebrannt. Alle sinnieren vor sich hin. Der Gottvater hat sich die Zigarre angemacht, Jesus starrt auf seinen ausgeflippten Cocktail, und Mutter Maria leise: Wie lange sie wohl noch an uns glauben werden? Ich gehe zu Bett, sagt Jesus. Schönen Dank noch mal für die Geschenke. Mutter Maria hinterher: Ach, diese Kleinigkeit. Mutter geht auch schon mal, die Betten aufschlagen. Gottvater starrt scheinbar geistreich ins Universum, und auf der Erde schneit's.

In Duisburg Stau wegen erheblicher Schneefälle. Weiße Weihnacht. Das Gänseskelett schimmert im Mondlicht. Die leeren Flaschen stehen auf dem Balkon. Die Gier schlüpft in ihren Karton. Der Neid schnarcht schon. Da findet auch die Eitelkeit endlich ihre Ruhe. Und alles ist egal.