Michael

Für die, die schon alles haben  ■ Von Gabriele Goettle

Bahnhof

M: Wartest Du schon lange?

G: Es geht.

M: Gehn wir wieder zum Chinesen? Ich möchte mit Stäbchen essen, das macht mich völlig fertig. Gib mir schnell ein bißchen Kleingeld fürs Schließfach, mit der Jacke hier kann ich ja nich gehen, oder?

G: Meinetwegen mußt du dich nicht umziehen.

M: Gib schon! Ich will raus aus den Klamotten. Du kannst ja schon vorgehen, ich komme dann nach... bestimmt, versprochen ist versprochen!

Chinarestaurant

M: Ich nehm Ente, ich steh total auf Ente, obwohl ich ja immer nur Pommes und Whopper esse, was nimmst denn du?

G: Dasselbe.

M: Scheiße! Nimm doch was anderes, dann kann ich das ausprobieren. Hier!! (wedelt mit einem Hundertmarkschein) Ich lade dich ein.

G: Das kommt überhaupt nicht in Frage, mein Lieber! Also, ich nehme dann Rindfleisch mit Glasnudeln, wäre das recht?

M: Du kannst auch Ente essen... wenn du schon selber bezahlst.

G: Danke.

M: Ich verhungere! Seit zehne steh ich schon mitten im totalen Weihnachtsterror, die Leute sind beladen wie die Packesel. Zwei hatte ich, willste hören?

G: Ja.

M: Der erste, ein abgefahrener Typ, Lehrer oder so, sagt: „Mein Auto steht drüben im Parkhaus, man bekommt ja jetzt in der ganzen Stadt keinen Parkplatz mehr, ich hab nicht viel Zeit.“ Wir also ins Parkhaus getigert, da steht sein Mercedes. Hinten is schon proppenvoll mit Tüten und Paketen, alles mögliche, und ich frag: „Sind das alles Weihnachtsgeschenke für deine Kinder?“ Und der sagt: „Für die Familie, ja, jetzt laß das mal, Junge, jeden Moment kann meine Frau kommen, beeilen wir uns!“ Mir kann's ja nur recht sein, je schneller umso besser... Zeig nochmal, wie soll ich die verdammten Dinger halten? Scheiße, heute fällt alles runter... warte, so... die haben echt einen Hammer, die Schlitzaugen!

G: Wir können Besteck bestellen.

M: Nee, nee! Ich mach das schon. Ah so, also dann geh ich zum Zoo zurück, steh so fünfzehn Minuten, kommt ein Fettsack an, langer schwarzer Ledermantel, getönte Brille, Glatze, ich seh gleich, der hat Kohle. „Gehn wir ein bißchen spazieren, ich war schon seit Jahren nicht mehr im Tiergarten“, sagte er, Mann, und das bei der Kälte. Der schlendert dahin, bis fast zum Brandenburger Tor, da glotzt er rum wie ein Tourist, quatscht blöd: „Ich kann es immer noch nicht fassen, daß wir jetzt hier überall...“, und dann zieht er mich ins Gebüsch, sagt immer: „Hier noch nich, hier kann man uns vom Weg aus sehen.“ Ich sag dir, ich bin fast erstickt beim Blasen! Vor lauter Schiß, daß jemand was sieht, hat er seinen Ledermantel über mir zugehalten. Die Knie frieren dir am Boden fest, wenn einer so lange braucht, alles nur aus Schiß... und dann schreit er wie ein abgestochenes Schwein! Ich versteh das nich. Aber egal, einen Fünfziger hatte ich schon, da holt der die Brieftasche raus — so fett, sag ich dir — fischt nen Hunni raus und sagt: „Gut gemacht! Kauf dir nen Weihnachtsmann. Und jetzt geh vor und ruf mir ein Taxi!“ Ich scheiß doch auf sein Taxi, weißte, dann bin ich gleich gekommen, ich wollte dich nicht zu lange warten lassen wegen dem Arschloch.

G: Das ist nett. Sag mal, nimmst du Präservative?

M: Guten Appetit!

G:(lacht) Du kannst es mir auch nach dem Essen erzählen.

M: Wegen mir isses nich, ich dachte, dir kommt die Kotze hoch.

G: Mich ekeln ganz andre Sachen.

M: Ich habe fast immer ein Gummi. Wenn ich gute Kohle mache, kauf ich mir unten im Laden was auf Vorrat. Im Moment steh ich auf Kiwi. Den meisten Typen isses egal, solang du ihnen nur einen runterholst. Beim Blasen gibts immer welche, die sind scharf drauf, daß du ihren Saft schluckst, da gibts dann so Tricks...

G: Tricks?

M: Ja, du steckst dir heimlich nen Gummi in den Mund, da kannste noch gut mit reden, da merkt der nix. Und dann isses nur wichtig, daß du ihn im richtigen Moment mit den Lippen so festhältst, daß er sich von allein auf den Schwanz rollt, wenn er in den Mund reingeht. Hinterher läßte das Ganze unauffällig verschwinden. Beim richtigen Verkehr — anal mach ich nur mit festen Freiern — mal so, mal so, das kommt auf die Kohle an, die sie abdrücken.

G: Deine Kunden selbst, die kaufen kein Präservativ?

G: Spinnst du? Das gehört mit zum Service! Außerdem wollen ja fast alle ohne. Schuld daran sind die Ausländer, die Polacken und Rumänen, die lassen sich für einen Zwanziger durchziehn, ohne! Uns versaun sie die Preise; und die Freier. Wenn sich da einer von denen auch nur von weitem blicken läßt, dem schlagen wir sofort die Zähne ein, das wissen die Wichser ganz genau. Die Foto- und Videojobs haben sie uns auch weggenommen...

G: Was sind das für Jobs?

M: Da gibts so nen Typen, der handelt mit Knabenpornos. Da macht der die fette Kohle mit. Also der hat auch ein Studio, mit Kameramann und so, es werden Filme gedreht und Fotos gemacht. Ein Kumpel hat mich zuerst mit hingenommen, auf so eine Party, voriges Jahr. Der Typ hat eine irre Wohnung, im Penthouse, du kannst rundum auf einer Terrasse gehen und über die ganze Stadt schaun, total stark. Innen ist auch alles vollkommen abgefahren, runde Betten, Neonschriften an der Wand, Fernseher mit Riesenbildschirm, da laufen dann seine ganzen Pornos ab. Du kommst da nicht so ohne weiteres rein, wirst erst gecheckt, ob du vielleicht irgendwie Spitzel bist oder so, aber mein Kumpel hat gesagt: „Den kenn ich gut, der is sauber, ich verbürge mich dafür.“ Da gabs keine Probleme. Das ist alles deshalb, weil auf den Partys auch Promis sind.

G: Was für Prominente?

M: Ich kannte die alle nicht. Irgendwelche Wichser: Ärzte, Rechtsanwälte, Architekten, Politiker, sogar ein Richter war mal da, alles schwerreiche Säcke. Die waren nicht kleinlich, das muß ich zugeben. Ich hab die Kohle nur so abgeschleppt, damals — ich war elf — und hatte noch kein einziges Haar unten. Da standen die total drauf. Von mir gibts neun Filme. Willste mal einen sehn?

G: Nein.

M: Du stehst eben nicht auf Knaben, na egal, jedenfalls haben sich jetzt die Ausländer da reingedrängt in die Jobs, da kannste fast vom Säugling an alles haben für deine Kohle: blonde Polen, Zigeuner mit Locken, seit kurzem kommen auch Jugos... das ganze Scheißpack, für ein bißchen Kohle lassen die sich den Arsch aufreißen bis zu den Ohren... Schreibste das auch auf?

G: Soll ich nicht?

M: Doch klar, alles! Vielleicht merken die Freier mal was.

G: Also, ich hab nicht den Eindruck, daß die auch nur das Geringste bemerken. An dir fällt ihnen ja auch nichts auf.

M: Was meinst'n? Was soll ihnen denn auffallen an mir?

G: Beispielsweise, daß du ziemlich minderjährig bist, nicht in die Schule gehst, auf der Straße herumstreunst, keinen hast, der sich um dich kümmert.

M: Ahhhch Scheiße! Alles Quatsch, was du da redest! Ich kümmere mich um mich selbst. Ich bin seit einem Jahr auf Trebe, nur zweimal haben mich die Bullen aufgegriffen und ins Heim gebracht — einmal sogar nach Westdeutschland — aber so schnell konnten die gar nicht hingucken, da war ich schon wieder geflitzt, mich kann kein Erzieher halten, das läuft nich! Ich laß mich nicht mehr einsperren, das hab ich lange genug kennengelernt, ne danke, du. Und soll ich dir mal noch was sagen?

G: Ja.

M: Weil du denkst, die Freier sollen Mitleid mit mir haben...

G: Nicht Mitleid meinte ich, das wäre zu wenig...

M: Is mir ja egal, kann ich alles nicht brauchen, die Scheiße. Du mußt das so sehen: Ein guter Freier is einer, mit dem du vielleicht nett ins Kino gehst oder mal was essen, der dich einlädt, der die Kohle abdrückt, die du haben willst, den du bedienst wie dus haben willst. Die schlimmsten Freier sind die, die dir mit der moralischen Tour kommen. Kaum sind sie fertig, gehts schon los: „Junge, hast du denn keine Eltern? Du ruinierst dir ja dein ganzes Leben, du kannst doch nicht ewig auf den Strich gehen. Denk doch mal über deine Zukunft nach, aus dir könnte noch was Tüchtiges werden, am besten, du gehst ins Heim zurück, machst deine Schule fertig und lernst ein Handwerk, Handwerk hat goldenen Boden... Ich, in meiner Position, kann leider nichts für dich tun, aber ich will dein Bestes, mein Junge, das kannst du mir glauben.“ Das nervt so, du kriegst Lust, das Arschloch in die Eier zu treten.

G: Ich verstehe dich, aber nicht deine Freier...

M: Die besten sind die Homos, da gibts keine Probleme. Die schlimmsten sind die älteren Familienväter, die Heteros, die braven Bürger, Geschäftsleute... unter diesen Freiern kannste dann solche Wichser finden — Perverse, Sadisten — die dir die Ohren vollabern mit ihrer Scheiße, aber keiner fragt dich mal: „Wo schläfst du denn heute nacht?“

G: Und, wo schläfst du?

M: Bei einem Kumpel, im Moment. Das is ein Ossi, aber ein echt guter Kumpel, ganz ehrlich! Vorher bin ich mit den Obdachlosen rumgezogen, hab mal bei Freiern gepennt oder im Tiergarten, aber das ist alles Mist. Du saust dich ein, holst dir Sackratten, bist immer erkältet. Und immer mußte sehn, daß dich die Bullen nicht kassieren, ich hab ja keine Papiere und nichts. Jetzt penne ich richtig im Bett, bei meinem Kumpel — der ist drei Jahre älter, aber da läuft nichts, nee, nur so — ist alles wunderbar, nur die Oma macht uns manchmal fertig.

G: Die Oma?

M: Na, das is so: Die Wohnung gehört eigentlich der Oma, drei Zimmer, Küche, Klo halbe Treppe. Der Sascha ist bei ihr aufgewachsen, und seit sein Opa gestorben ist, liegt die Oma im Bett und steht nicht mehr auf, nix zu machen. Die is schon Rentnerin, aber irgendwie ist die Rente auch zu niedrig oder so, jedenfalls macht der Sascha alles für seine Oma, echt alles. Er wäscht sie sogar, holt ihr nen Nachttopf, macht sauber, bringt was zu essen mit, kauft Tabletten... aber sie nervt eben immer. Nachts geht das: „Sascha, Sascha! Kinder, seid ihr da? Ich kann meine Tabletten nicht finden, Sascha, gib mir doch bitte meine Tabletten“ und soweiter, oder sie muß mal. Keine Nacht ist Ruhe. Weil sie ja den ganzen Tag schläft, während wir weg sind, ist sie nie müde. Aber andererseits isses warm und sauber, und ich hab nich den Streß mit den Bullen oder mit Skins oder so. Es ist nur eine Oma. Aber jetzt, Weihnachten ausgerechnet, muß ich raus, weil eine Tante vom Sascha zu Besuch kommt für eine Woche. Durch Zufall hab ich für die Zeit was anderes gefunden, bei einem ehemaligen Erzieher, den ich aus dem Heim kenne. Den treff ich neulich in der U-Bahn, er hat mich zum Essen eingeladen — da waren wir bei einem Italiener, das war auch nicht schlecht — ich erzähl ihm also alles, und er sagt: „Komm doch zu mir über Weihnachten, ich hab nichts weiter vor, kannst dir auch was wünschen.“

G: Und was hast du dir gewünscht?

M: Ganz was Blödes!

G: Sags schon.

M: Schlittschuhe. Kannst du Schlittschuhe laufen?

G: Heute nicht mehr, glaub ich, und du?

M: Nee, keine Ahnung, hab ich noch nie probiert, aber das ist doch irgendwie echt geil, wie du mit denen dahinzischen kannst. Ich lern das schon.

G: Da bin ich sicher.

M: Ich hätt mir ja schon selbst welche kaufen können, aber immer geht mein ganzes Geld drauf in der Spielhalle. Am Gerät bin ich der King, da mußt du mich mal sehen. So, jetzt hau ich ab, hab noch zu arbeiten, ciao!