Das Ende der Gemütlichkeit

■ Die Angst hat sich bewahrheitet: Nach zwei Jahren Erfahrung mit dem vereinigten Deutschland diskutieren fünf ausländische Frauen über den Rassismus und die Unmöglichkeit, ihn zu einem politischen Skandal zu machen.

Zwei Jahre danach. Am 23. Dezember 1989 schilderten fünf Frauen aus der Türkei, Kurdistan, Polen, den USA und dem Iran ihre Eindrücke, Einschätzungen und Ängste kurz nach dem Fall der Mauer. Die Euphorie in der Nacht der Grenzöffnung hatten sie zum Teil miterlebt und geteilt — jedoch damals schon begleitet von der Vorahnung, daß die Grenze zwischen deutsch-deutschem Freudentaumel und großdeutschem Siegergegröle oft fließend ist. „Wenn man in Deutschland Wiedervereinigung sagt“, erklärte damals im Gespräch mit der taz Sevim Celebi, „ist das immer mit Rassismus und Ausländerfeindlichkeit verbunden.“

Daß sie so sehr recht behalten würde, wagte sich vor zwei Jahren niemand vorzustellen. Jetzt hat die taz die fünf Frauen — alle seit Jahren politisch oder beruflich in der ImmigrantInnen- und Flüchtlingsarbeit engagiert — wieder eingeladen. Es war kein Gespräch der Resignation, wohl aber eines, daß die Fassungslosigkeit darüber zum Ausdruck brachte, was in Deutschland heute wieder möglich ist.

Sevim Celebi, Türkin mit deutschem Paß, war ehemals Abgeordnete der Alternativen Liste im Berliner Landesparlament; sie lebt seit 22 Jahren in Berlin.

Aso Agace, Kurdin mit deutschem Paß und seit zwölf Jahren hier, ist Mitbegründerin und Mitarbeiterin einer Berliner Beratungsstelle für türkische und kurdische Frauen.

Ewa-Maria Slaska, polnische Journalistin und Autorin, lebt seit fünf Jahren in Berlin. Sie arbeitet als Betreuerin in einem Heim für Flüchtlinge.

Czarina Wilpert, seit 22 Jahren hier, ist Amerikanerin mexikanischer Abstammung. Die Soziologin befaßt sich unter anderem mit Modellprojekten für zweisprachige Berufsausbildung.

Nasrin Bassiri ist Politologin aus dem Iran. Bereits unter dem Schah-Regime war sie nach West-Berlin geflohen. Nach der Revolution kehrte sie in ihre Heimat zurück, doch kurz darauf zwang das Khomeini-Regime sie zum zweiten Mal zur Flucht. Sie arbeitet zur Zeit in der Flüchtlingsbetreuung des Deutschen Roten Kreuzes.

taz: Vor zwei Jahren haben Sie, Sevim Celebi, ihre Gefühle kurz nach der Maueröffnung mit den Worten zusammengefaßt: Deutsch-deutsche Euphorie heißt immer: alle anderen raus. Inzwischen ist von Einheitseuphorie bei den Deutschen nichts mehr zu spüren, wohl aber Ausgrenzung und Haß gegen Nichtdeutsche. Schlimmer hätten sich Ihre Befürchtungen kaum bestätigen können...

Sevim Celebi: Das kann man wohl sagen. Die ökonomischen Versprechungen der westdeutschen Politiker gegenüber den Leuten im Osten haben sich nicht erfüllt. Um von der verfehlten Politik abzulenken, brauchen sie einen Sündenbock. Und das sind die Flüchtlinge und ImmigrantInnen. Das ist bewußte rassistische Politik, und sie hat großen Erfolg.

Nassrin Bassiri: Ich habe zuerst auch gedacht, daß die Vereinigung die Deutschen in jeder Hinsicht stärker macht. Inzwischen aber sehe ich, daß sie sich so einig gar nicht sind. Nicht nur die ökonomischen Probleme wachsen in den Himmel, sondern auch die psychischen. Die Ostdeutschen fühlen sich unterlegen, und die Westdeutschen fühlen sich durch die Vereinigung ökonomisch belastet. Diese Spannung und gegenseitige Nichtakzeptanz, oder Haß, werden jetzt umkanalisiert, auf die Ausländer. Wir sind, wie es in einem persischen Sprichwort heißt, die Hühner, die geschlachtet werden. Egal, was passiert — ob es eine Trauerfeier oder eine Hochzeit ist.

Was mich so schockiert ist, daß die Schamgrenze gefallen ist. Daß heute Menschen im Fernsehen ganz offen sagen können: „Wir waren dabei, wir haben das Flüchtlingsheim angezündet, wir haben die Leute angegriffen, und wir hoffen, daß die Polizei nächstes Mal später kommt.“ Sie wagen, das direkt in die Kamera zu sagen, weil sie wissen, daß ihnen nichts passiert.

Aso Agace: Können Sie sich vorstellen, wie das ist, wenn Ihnen eine Iranerin erzählt, daß sie vom Khomeini-Regime weggelaufen ist, weil sie endlich wieder ruhig schlafen wollte? Aber diese Ruhe findet sie in Deutschland nicht, weil die BewohnerInnen des Flüchtlingsheimes sich jetzt bei der Wache ablösen müssen. Mir machen allerdings weniger die Jugendlichen Angst, die in ein Flüchtlingswohnheim gehen, um Leute anzugreifen, als die Bevölkerung, die zuschaut und feiert. Auch die Medien haben systematisch ihren Teil zu dieser Hetze beigetragen Der erste Dreck sind die Ausländer, der zweite die Ostdeutschen. Die sind auch diskriminiert.

Czarina Wilpert: Ich habe mir nicht vorgestellt, daß es so schlimm wird. Ich habe immer gesagt, daß der Rassismus nicht aus dem Osten kommt. Den gab es schon vorher — bloß wollte man im Westen nicht so öffentlich davon reden. Als es dann aber im Osten passiert ist, wurde es ein öffentlich wirksames Thema. Gerade vorgestern sind einem Türken, der seit 20 Jahren eine Änderungsschneiderei in Charlottenburg betreibt, die Scheiben seines Ladens eingeworfen worden. Das ist, glaube ich, inzwischen überall möglich. Man gefällt sich momentan ja darin, Vergleiche mit anderen Ländern anzustellen und sagt: Das wird jetzt wie Brixton oder wie Frankreich. Aber das stimmt nicht, das ist nicht das gleiche. Hier gehen die Einheimischen gegen die Ausländer vor. So etwas kenne ich sonst nur noch aus den USA. Das sind Ku-Klux-Klan- Verhältnisse, und das finde ich unglaublich.

Wäre Hoyerswerda zum Beispiel in Frankreich nicht möglich? Ist der Rassismus in Deutschland qualitativ ein anderer als in anderen Ländern?

Czarina Wilpert: Bis vor einem Jahr habe ich gesagt, daß in Frankreich oder England die Brutalität in den interethnischen oder -rassischen Beziehungen viel stärker sei, was unter anderem mit der Kolonialgeschichte zu tun hat. Aber wenn es in Frankreich zu rassistisch motivierten Übergriffen kam, war es oft ein Einzelgänger, meist ältere Menschen. Es handelte sich selten um Jugendliche, die gegen Ausländer agierten. und schon gar nicht so massenhaft, wie das hier jetzt von jungen Leuten betrieben wird. Das ist eine andere Ebene, zumal die bundesdeutsche Regierung keine Stellung dagegen bezieht.

Aber hochrangige französische Politiker wie Giscard D'Estaing oder die Premierministerin Edith Cresson schlagen durchaus rassistische Töne an...

Sevim Celebi: Aber Frankreich hat eine ganz andere Geschichte. Die sechs Millionen Juden sind von den Deutschen ermordet worden, nicht von den Franzosen. Die deutschen Politiker haben also eine ganz andere Verpflichtung in dieser Frage. Ich finde diesen Trend des „europäischen Vergleichs“ übrigens sehr befremdlich. Auch Linke stellen sich jetzt in Deutschland hin und sagen: Rassismus gibt es überall, auch in anderen Ländern, in der Türkei zum Beispiel gegen die Kurden. Damit wird relativiert und zum Teil auch legitimiert, was hier in diesem Land passiert.

Nassrin Bassiri: Man muß auch sehen, daß die antirassistische Bewegung in Frankreich, obwohl der Rassismus dort nicht so weit fortgeschritten ist wie hier, sehr stark ist. Hier veranstalten die Linken wegen der Beschädigung sowjetischer Denkmäler eine Großdemo. Aber wenn ein Pakistani auf der Straße ermordet wird, kommen 40 Leute, davon 10 Deutsche. Und wenn ein Vietnamese angegriffen wird vielleicht 600.

Ewa Slaska: Man erklärt hier alle Ereignisse, bis hin zum Mord, inzwischen damit, daß Menschen in Wohnsilos leben, arbeitslos sind, keine Chancen haben. Aber es gibt, bitte schön, im ganzen Osten nach der Wende Armut und Elend — und Wohnsilos gab es schon vorher. Ich will kein Land in Osteuropa idealisieren, aber nirgendwo sonst versuchen Politiker, brutale, kriminelle Angriffe damit zu erklären, daß die Täter in Betonklötzen leben.

Nassrin Bassiri: Viele Jugendliche laufen aber auch mit, weil sie in diesen toten Schlafstädten Langeweile haben. Ich will sie nicht entschuldigen, aber ich glaube, daß sie keine Rassisten sind. Die gehen einfach mit, wenn es irgendwo Randale gibt, weil sie was erleben wollen, sich stark fühlen wollen.

Czarina Wilpert: Natürlich sind benachteiligte Jugendliche leichter manipulierbar. Aber das reicht für eine Erklärung nicht aus. Von irgendwoher muß die Legitimität dafür kommen, und die politischen Leitaussagen sind von oben gekommen: von der Regierung, aus den Parteien. Einer der ersten Schritte nach der Vereinigung bestand zum Beispiel darin, Asylsuchende auch auf die neuen Bundesländer zu verteilen, obwohl die dort gar nicht vorbereitet waren, weil es keine Infrastruktur gab. Das war ein Teil des Einigungsvertrags — und die Message an die Ostdeutschen war völlig klar: Ihr habt die Westmark bekommen, dafür müßt ihr unsere Last und unseren Ärger mit den widerlichen Ausländern teilen. Das haben die im Osten auch genau so verstanden.

In der Diskussion um Strategien gegen den Rassismus ist auffällig, daß sie sich nur auf zwei Schienen bewegt: Entweder ist es der Mitleidseffekt, der eine emotionale Sympathie für die Ausländer herstellt — aber nur, solange sie Opfer sind. Oder man argumentiert auf der ökonomisch-utilitaristischen Schiene: Wir brauchen die AusländerInnen, sie sind wirtschaftlich nützlich. Das heißt implizit: Wenn sie nicht nützlich wären, wären der Haß und die Aggression wenn nicht berechtigt, so doch verständlich. Was in Deutschland fehlt, ist ein klar politisch motivierter Antirassismus. Warum ist es Ihrer Meinung nach nicht möglich, aus dem Rassismus in diesem Land einen politischen Skandal zu machen?

Ewa Slaska: Weil sich das niemand wünscht...

Czarina Wilpert: Dazu fehlt zum ersten die institutionelle Basis. Ausländer haben keine politischen Rechte. Eine Definition von Deutschland ist: Deutschland den Deutschen. Hier herrscht immer noch die Auffassung: Wir sind kein Einwanderungsland. Wir lassen euch hier nur aus ökonomischen Gründen rein, oder aus gutem Willen gegenüber den „Asylanten“, weil wir nun mal eine moralische Verpflichtung aus der Zeit des Nationalsozialismus haben. Aber eigentlich wollen wir das nicht, ihr gehört nicht dazu, ihr seid zu anders. Zum zweiten reflektieren selbst die Ausländer, die lange hier leben, kaum darüber, daß ihnen eigentlich Rechte zustehen. Bisher haben nur die treibenden Kräfte der Ausländer, sagen wir die Elite, dieses Gefühl entwickelt. Nur die junge Generation, die hier geboren ist, wird diesen Sinn für Gerechtigkeit mit der Zeit in größerem Stil entwickeln und ihre Rechte einklagen.

Sevim Celebi: Ich versuche seit Jahren, ImmigrantInnen-, Flüchtlings- und Ausgrenzungspolitik auf die Tagesordnung zu bringen. Aber es wird von den Medien, auch von den Linken, ignoriert. Weil die Lobby nicht da ist. 10 Jahre Kampf für das Wahlrecht — und was haben wir überhaupt erreicht? Nichts, im Gegenteil: Wir sind hier zum Freiwild geworden. Unter solchen Vorzeichen ist es sehr schwierig, eine politische Antirassismusbewegung zu organisieren.

Ewa Slaska: Damit ist die Frage aber nicht beantwortet, warum Rassismus in Deutschland nicht als politischer Skandal empfunden wird. Die einfache Antwort lautet: weil sich das niemand wünscht. Und wenn man sich dann fragt, warum, dann stößt man sehr schnell auf die deutsche Gechichte und den Umgang der Deutschen mit Fremden — auch schon vor dem Nationalsozialismus. Nur, mit Verlaub gesagt, das sind Fragen, die eher die Deutschen beantworten müssen und nicht wir.

Nassrin Bassiri: Das Problem ist, daß die meisten politischen Kräfte hier entweder unheimlich konservativ oder einfallslos und ängstlich sind. Nehmen wir die SPD, die bezüglich der ImmigrantInnen- und Flüchtlingspolitik nicht an ihren eigenen Grundsätzen festhält, sondern sich den eigenen politischen Spielraum von der CDU diktieren läßt. Sie will das Asylverfahren verkürzen, die Sozialhilfe kürzen, Sammellager einführen. Und das Bündnis90/ Grüne rennt hinter der SPD her.

Ewa Slaska: Da widersprechen wir uns wieder. Zuerst sagen wir, daß die Leute so reagieren, weil es von den Politikern oben erlaubt worden ist. Jetzt heißt es, die Politiker laufen den Wählern nach. Das heißt, alle Deutschen laufen im Kreis herum und jagen Ausländer.

Czarina Wilpert: Da hat eindeutig eine Verschiebung stattgefunden. In der Zeit des Einigungsprozesses habe ich bei linken Freunden und Kollegen, die sich früher für Ausländer zumindest intellektuell engagiert haben, erlebt, daß sie sagten „Ihr versteht gar nicht, was passiert. Wie kannst du so kritisch sein. Du hast es doch gut hier, und die Türken und die anderen auch. Wo sonst könnt ihr so gut leben.“ Und dann präsentieren sie soziologische Untersuchungen, die beweisen, daß die soziale Mobilität, die ökonomische Situation der ausländischen Bevölkerung, hier so gut ist. Ohne auch nur daran zu denken, wie diese Menschen hier behandelt werden, wie ihre Zugehörigkeit zur Gesellschaft definiert wird. Und das von Leuten, die sich früher zumindest einmal als links und engagiert definiert haben. Das ist schockierend.

Aso Agace: Die Frage ist, warum das Interesse gerade der Linken in Deutschland an dieser Frage so nachgelassen hat.

Sevim Celebi: Vorher war es doch auch nie ernsthaft da.

So einfach läßt sich das nicht sagen, daß es kein Interesse für eine andere Ausländerpolitik gab. Nehmen wir mal das Stichwort multikulturelle Gesellschaft, auch wenn das Wort inzwischen furchtbar abgedroschen ist.

Czarina Wilpert: Genau das war das Problem: Man hat von Multikultur gesprochen, ohne zu wissen, was man damit meint...

Nassrin Bassiri: Die Deutschen, die Linken, haben nie ein normales Verhältnis zu Ausländern entwickelt. Entweder haben sie ein schlechtes Gewissen, das sie in positiven Rassismus ummünzen, oder gar kein Verhältnis, weil man auf die Dauer nicht immer nett sein kann und will. Wo man hinschaut, sitzen in den antirassistischen Gruppen zum Beispiel entweder nur Deutsche oder nur ImmigrantInnen. Es gibt kaum funktionsfähige gemischte Gruppen. Das spielt sicher auch eine Rolle dabei, warum hier keine effektive antirassistische Arbeit stattfindet.

Aso Agace: Ein Teil dieser Kritik geht allerdings an unsere Adresse. Wir haben die Rolle der zu Betreuenden immer akzeptiert und ebenso die Rolle der Deutschen als die Betreuenden. Wir haben nie gesagt: mit uns, nicht über uns.

Ewa Slaska: Aber ich betone das noch einmal: Es ist nicht unsere Aufgabe als Ausländer, den Deutschen beizubringen, wie sie mit ihrem Rassismus, Faschismus und Nationalismus zu kämpfen haben. Das ist eine deutsche Frage.

Aber die Opfer müssen sich dennoch damit auseinandersetzen...

Ewa Slaska: Natürlich. Und die Antwort ist für uns sehr interessant und wichtig. Aber hier wurde auch gesagt, daß die politische Lobby der Ausländer hier schwach ist, daß die Selbstvertretungsgruppen zu schwach organisiert sind. Das war meines Erachtens in Deutschland auch deshalb nicht möglich, weil die politischen wie ökonomischen Verhältnisse einen starken Mittelstand unter den Minderheiten nicht zugelassen haben. Es gibt bei jeder ausländischen Minderheit in Deutschland eine Polarisierung. Da ist zum einen die Elite — die interessiert sich für die Masse überhaupt nicht, sondern in der Regel nur für die eigene Karriere. Und es gibt die breite Basis, die schlecht verdient, oft am Rande der Legalität lebt. Was uns fehlt, ist eine starke Mittelklasse. Wenn wir diese Struktur erfüllt hätten, hätten wir die Kräfte für eine Lobby, um uns in die deutsche Politik einzubringen. Solange diese Minderheiten immer gesplittet sind, wird das nicht passieren.

Nun haben Sie die Schwachstellen der Minderheiten analysiert und auch die Politik und Motivation derer kritisiert, die sich in diesem Land gern als antirassistisch verstehen. Wo sehen Sie dann die AkteurInnen einer antirassistischen Politik? In der noch fehlenden ausländischen Mittelschicht? In der zweiten, hier geborenen und aufgewachsenen Generation?

Czarina Wilpert: Natürlich ist auch die zweite Generation keine homogene Gruppe. Aber aus dem Widerspruch, hier geboren worden zu sein, Deutsch besser zu sprechen als die Muttersprache, in der Heimat der Eltern nicht zu Hause zu sein, hier aber als ausländisch unterdrückt zu werden, entsteht die totale Unerträglichkeit, die zur Gegenwehr führt. Entweder auf der Straße oder in organisierten Gruppen. Natürlich passiert das nicht von heute auf morgen.

Aso Agace: Ich halte das für idealistisch. Dafür muß ein politisches Bewußtsein da sein. Wie viele der Jugendlichen, die hier geboren wurden, aber sind aktiv?

Czarina Wilpert: Ich wollte damit auch nicht sagen, daß daraus eine stabile, politisch erfolgreiche Bewegung entsteht. Das ist unvorhersehbar. Ich denke nur, daß es zukünftig mehr Ärger, mehr Wut bei den Ausländern geben wird und daß er sich bei den jüngeren Leuten anders ausdrücken wird als bisher.

Nassrin Bassiri: Aber wird er auch effektiv gegen Rassismus sein können? Dafür braucht man ein anderes Selbstbewußtsein und eine andere Erfahrung. Wenn man immer als etwas anderes, Minderwertigeres behandelt wurde, obwohl man hier geboren und aufgewachsen ist, geht man mit Deutschen genauso um wie die Eltern. Ich sehe da keine so großen Unterschiede. Bloß weil einer hier geboren ist, hat er noch keine anderen Chancen.

Das Fazit also ist: Der Rassismus wird stärker, es gibt keine AkteurInnen dagegen, und falls doch welche auftauchen sollten, haben sie sowieso keine Chance. Das läßt aus Ihrer Sicht eigentlich nur noch den Schluß zu, dieses Land zu verlassen. Mit diesem Gedanken haben Sie, Ewa Slaska, bereits vor zwei Jahren gespielt...

Ewa Slaska: Ich kann Ihnen sagen, warum ich noch hier bin: Weil mein 16jähriger Sohn nicht zurück will. Sonst wäre ich schon längst weg.

Sevim Celebi: Noch ein Wort zur zweiten und dritten Generation. Ich halte ihre Politisierung überhaupt nicht für idealistisch. Sie ist unvermeidlich und kann auch eine Mobilisierung gegen den Rassismus sein. Wir sollten auch selbstkritisch sagen, daß wir nicht geschafft haben, unser Wissen und unsere Erfahrungen zu politisieren, in den Parteien, Gremien, Medien zu fordern, daß sie gemäß unserem prozentualen Anteil in der Bevölkerung mit uns besetzt werden. Es wird jetzt höchste Zeit, daß wir Minderheiten uns zusammenschließen. Die Deutschen können für uns nicht die Stellvertreter machen.

Aso Agace: Warum geht das nicht zusammen?

Sevim Celebi: Das geht genausowenig zusammen wie Männer und Frauen, wie die feministische Bewegung nachgewiesen hat. Schon wegen rechtlicher Unterschiede. Wir sind nicht auf der gleichen Ebene. Wir werden auch von vielen Linken nicht ernst genommen. Und solange wir ausgegrenzt werden, geht's zusammen schlecht.

Nassrin Bassiri: Die Frauen sind aber einheitlicher als wir. Die Minderheiten aber kommen aus verschiedenen Ländern, mit verschiedenen politischen Ideen. Daraus eine Kraft gegen den Rassismus zu machen, sehe ich ein bißchen schwarz. Wenn ich an islamisch-fundamentalistische Türken denke, haben die zwar das gleiche Interesse, was Rassismus betrifft, und ich bin bereit, mit denen gegen Ausländerfeindlichkeit zusammen auf die Straße zu gehen, aber nicht mit ihnen zu diskutieren.

Gibt es denn Perspektiven für ein Bündnis zwischen den Minoritäten? Verbindet die Konfrontation mit Rassismus die verschiedenen kulturellen und ethnischen Gruppen so weit, daß sie gemeinsam dagegen Politik machen ?

Sevim Celebi: Ich glaube wohl, daß das verbindend wirkt. Es wird ja nicht nur eine Minderheit betroffen. Es geht gegen alle, die anders aussehen.

Ewa Slaska: Aber es ist eben eine Negativerfahrung, die uns verbindet. Der Konsens, wenn er denn da ist, ist ein künstlicher.

Nasrin Bassiri: Ich bin da sehr skeptisch, was die Solidarität unter den Minderheiten angeht. Als zum Beispiel in dem Flüchtlingswohnheim, in dem ich arbeite, die Angst vor Angriffen am größten war, haben sich die Leute für ein paar Tge zusammengeschlossen und sich für Nachtwachen eingeteilt. Aber das hat nur für eine Woche funktioniert. Dann haben sich die Nationalitäten gegenseitig beschuldigt, nicht weiter mitzumachen. Außerdem haben die Leute je nach Herkunft völlig unterschiedliche Sensibilitäten. Manche sind an diesen Ausnahmezustand von zu Hause her gewöhnt, andere hat das nicht interessiert, weil ihre Unterkünfte nicht am Rande des Heimgeländes liegen und sie nicht eingesehen haben, warum sie für die anderen Wache schieben sollen. Nur wenn die Gefahr unmittelbar und massiv ist, schließen sich die Leute zusammen. Aber das hält meist nicht lange an.

Czarina Wilpert: Es ist aber auch unsinnig, in dieser Situation gemeinsames politisches Handeln von Flüchtlingen zu erwarten. Aber von den Immigranten, die seit zehn oder zwanzig Jahren hier leben, kann man das erwarten. Denn wenn sich die Immigranten hier nicht organisieren, sich artikulieren, dann wird sich nichts ändern. Geschenkt wird uns hier gar nichts.

Da wird doch das Dilemma deutlich, daß Nichtdeutsche, egal welcher Nationalität, hier immer zu einer homogenen Gruppe zusammengefaßt werden: den Ausländern. Vor allem die vermeintlich ausländerfreundlichen Deutschen weisen ihnen mit Vorliebe einen Opferstatus zu und glauben, dieser Status führt automatisch zu gemeinsamer politischen Handlungsfähigkeit...

Czarina Wilpert:Es geht doch auch nicht um eine Massenbewegung aller Ausländer. Man muß da differenzieren. Die Frage ist: Können politisch bewußte Ausländer, deren Zahl im übrigen auch nicht so groß ist, sich politisch organisieren und bestimmte politische Wirkung erzielen? Natürlich ist es absurd zu glauben, man könnte auf irgendwelchen Bündnistreffen das gesamte Spektrum von maoistischen Türken bis zu islamischen Fundamentalisten unter einen Hut kriegen. Trotzdem ist eine wie auch immer geartete Form politischer Organisierung unumgänglich, wenn man etwas bewirken will.

Nasrin Bassiri: Ich habe nichts dagegen, sich zu organisieren. Wobei dann auch vorstellbar ist, daß sich die konservativen Strömungen unter den Ausländern zusammenschließen. Die gibt es hier auch, genauso wie es eine deutsche CDU gibt. Aber ich halte es für wenig aussichtsreich. Wir sind keine politische Kraft, wir haben kein Geld, wir haben keine Partei, keine Zeitung, wir können nicht mal wählen. Was uns bleibt, ist am Ende tatsächlich nur die Demonstration auf der Straße. Ich will nicht gegen die politische Organisierung von Ausländern anreden. Ich will nur vor übertriebenen Hoffnungen warnen. Gegen die rassistische Grundstimmung wird das wenig ausrichten. Vor allem aber will ich die Deutschen nicht aus ihrer Verantwortung entlassen. Die dürfen wählen, die haben Parteien, sie haben Zugang zu den Medien. Jetzt sind die Deutschen gefragt.

Aber ganz offensichtlich hat die Debatte der letzten beiden Jahre über Migrationsbewegungen aus Osteuropa, über Roma-Flüchtlinge aus Rumänien, auch bei der Linken in Deutschland einen gehörigen Schrecken hinterlassen. Vor drei Jahren hätte man für eine antirassistische Demonstration vielleicht deshalb mehr Menschen mobilisiert, weil die „Fremden“ — abgesehen von der überschaubaren Zahl an ImmigrantInnen und Asylsuchenden — damals noch weit weg waren...

Czarina Wilpert: Die Linken haben davor natürlich auch Angst. Ich höre noch Kollegen von mir, ausgebildete Psychologen, die gesagt haben: „Hoffentlich kommen die Roma nicht, weil dann die Deutschen erst recht rassistisch werden.“ So etwas erlebe ich bei linken Deutschen oft — diese Angst, in ihnen stecke etwas unberechenbar Böses, das durch die Präsenz der Fremden bloßgelegt werden könnte — die Angst vor der eigenen Geschichte.

Ewa Slaska: Mein Gott, vielleicht geht's den Linken ja auch nur um ihre Gemütlichkeit, die sie gern verteidigen wollen. Die Migrationsprognosen aus Osteuropa sind so unrealistisch nicht. Wenn diese Menschen kommen, werden sie etablierte Lebensweisen und Lebensgefühle bedrohen. Diese Gemütlichkeit ist etwas unnachahmlich Deutsches. Der Begriff gehörte übrigens zu Hitlers Lieblingswörtern, und es ist auch kein Wunder, daß er Spitzweg, den Maler der Gemütlichkeit, so liebte. Aber schieben wir das nicht alles auf die Deutschen. Wir, die hier etablierten Immigranten, haben auch eine Gemütlichkeit entwickelt, die wir gerne verteidigen möchten.

Czarina Wilpert: Natürlich hat jeder eine gewisse Angst vor Fremden. Aber die Frage ist, wie man die Grenze zum Rassismus definiert.

Ich höre von Wissenschaftlern und Politikern immer wieder die Befürchtung: „Wir kriegen amerikanische Verhältnisse.“ Damit wird ja der Ausgrenzungsprozeß begründet, weil die Deutschen in den Worten von Herrn Stoiber diese „rassische und kulturelle Durchmischung“ einfach nicht vertragen. Die Frage ist, ob man mit diesen Ängsten anders, pragmatischer umgehen kann: zum Beispiel durch das Eingeständnis, daß es tatsächlich mit der Gemütlichkeit vorbei ist. Das Gespräch führten

Andrea Böhm

und Ulrike Helwerth