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WISSEN UND WISSENSCHAFTWo der Mond-Buggy schon immer ein Oldtimer war

Science-fiction ließe sich auch als die packende Kunst der Prophetie bezeichnen.Eigentlich braucht man nur alte utopische Romane Punkt für Punkt durchzugehen – und erhält ein Bild der Gegenwart. Science-fiction produziert die Zukunft „in vitro“, im Reagenzglas der Phantasie. Wie das vor sich geht, demonstriert ein experimenteller Essay  ■ VON DORIS LESSING

Wir alle warten auf die nächste wissenschaftliche Entdeckung, wie man früher dem letzten Abschnitt eines Romans von Charles Dickens entgegenfieberte, in einer Situation auf des Messers Schneide, die uns bis zum nächsten Kapitel im Ungewissen läßt. Was hätte aufregender sein können als James Gleicks Chaos, das uns erklärte, wie Wissenschaftler aus verschiedenen Kontinenten und aus Universitäten desselben Landes – den Vereinigten Staaten – gleichzeitig auf die Idee kamen, daß eine wildere Ordnung, als wir angenommen hatten, das Universum regiert? Und welche Idee, die unsere Ideen wieder umwerfen wird, reift ihrer Geburt entgegen – in lauter Köpfen, die einander unbekannt sind?

Es waren die Bomben von Hiroschima und Nagasaki, welche die Wand zum Einsturz brachten: Danach mußte jeder wissen, daß das unendlich Kleine soviel Kraft wie Sonne und Mond hat, die wir leuchten sehen. Aber die Bürger kennen den Unterschied zwischen Bakterien und Viren nicht, wie kürzlich eine Untersuchung gezeigt hat. Sie wissen, daß es Abstufungen von Kleinheit gibt, ebenso wie sie von unseren Astronauten erfahren (auch wenn sie den Unterschied zwischen Planeten und Sonnen nicht kennen), daß die Sterne so verschieden wie Pflanzen sind. Was ist bei der Erweiterung der Vorstellungskraft, des menschlichen Geistes als Ganzem, vor sich gegangen, um Platz zu schaffen für das Winzige und das Riesige, und auch für die Zeit, die sich unermeßlich in Vergangenheit und Zukunft erstreckt?

Einige Zeitgenossen der Queen Victoria konnten sich in dem Glauben wohl fühlen, daß die Welt etwa vor 5.000 Jahren geschaffen worden war, und zu ihren Zukunftsträumen gehörten keine Weltraumfahrten, bis sie H.G.Wells lasen – und das war nur Fiktion. Jetzt weiß jeder, daß unsere Welt vor mehr als einigen Millionen Jahren entstanden ist, weil wir alles im Fernsehen gesehen haben, Dinosaurierskelette, die in amerikanischen Berghängen auftauchten, und Bilder von Geo-Satelliten, welche die landschaftlichen Narben von Eiszeiten zeigen. Es wäre auch niemand überrascht, wenn er gesagt bekäme, daß unsere Nachfahren in den Weltraum aufbrechen, worin unser Planet nur einer innerhalb einer Planetenfamilie, um einen kleinen Stern herum, ist: Jedes Kind hat schon tausendmal als Fernsehvorspann die Welt sich wie eine Seifenblase drehen sehen. Und wenn in unserem Verstand viel mehr ein- und ausgeht als das unmittelbar Gegenwärtige, dann liegt das an der Science- fiction.

Für diejenigen, die mit Science-fiction vertraut sind (dies schließt das literarische Establishment aus – hier gibt es wirklich eine Berliner Mauer), ist es ein Gemeinplatz, daß nur wenige wissenschaftliche Entdeckungen von diesem Genre nicht Jahrzehnte zuvor vorhergesagt oder zumindest angedeutet worden sind. Das heißt, daß Science-fiction-Leser von einer neuen Entdeckung fasziniert sein können, aber es sind die Details, die fesseln, und nicht die Tatsache als solche, denn wir wußten schon lange vorher über Laser Bescheid oder über die Möglichkeit eines winzigen Untersuchungsgerätes (in der Größe eines Streichholzkopfes), das sich in den Blutgefäßen des Kardiovaskularsystems bewegt, oder irgend etwas anderes, das ersonnen wird.

Manchmal hat man das Gefühl, daß wir Punkte auf einer Liste abhaken, die mit den ersten Science-fiction-Magazinen in den dreißiger und vierziger Jahren geschrieben wurden. Man muß sich nur einmal den Mond-Buggy ansehen, den die NASA sich ausgedacht hat – den haben wir schon vor langer Zeit auf dem Umschlag von Astounding gesehen! Für das Klonen haben sie ganz schön lange gebraucht! Raumkolonien? Ich muß noch mal E s. Ze lesen. Hologramme? Was ihr nicht sagt! Es gibt sogar manche, die zuversichtlich auf intergalaktische Shifts, Teletransport und Hyperantrieb warten, oder sogar auf den unendlichen Unwahrscheinlichkeitsfaktor, der sich als Nebenprodukt des Chaos herausstellen wird. Mindestens zwei Generationen von Lesern haben eine Grundlage, wenn auch nicht der wissenschaftlichen Methode, so doch der wissenschaftlichen Ideen bekommen, denn die beste Science-fiction hat immer vorhandene wissenschaftliche Möglichkeiten genommen und sie benutzt, um Welten zu erschaffen. Anfangs gab es nur wenige Science-fiction-Leser, sie waren Fans der Ideen und nicht der Schreibweise, die unbeholfen war. Diese Zeit ist vorbei.

Doch während viele Menschen überall auf der Welt Science- fiction lesen, gaben sich manche wegen des geringen Ansehens dieses Genres ihrer Sucht nur heimlich hin. Als ich 1987 den „Science-fiction-Weltkongreß“ besuchte, war ich überrascht, wie viele bekannte Gesichter ich in den überfüllten Gängen sah. Natürlich waren da die Wissenschaftsjournalisten von Zeitungen und Magazinen, ein paar Wissenschaftler und die Science-fiction-Autoren. Aber auch Leute, die nicht für ihr Interesse an diesem Gebiet bekannt waren. Doch in den Medien tauchte das Treffen anschließend nicht auf. Während des mehrtägigen Kongresses fanden pro Stunde vier Seminare statt, und einige wurden von berühmten Leuten geleitet. Trotz der unterschiedlichen Titel dieser Veranstaltungen hatten sie ein gemeinsames Thema: Es ging um „Einfluß und Wirkung der Wissenschaft auf unsere Gesellschaft“. Eine ziemlich wichtige Frage...

Aber wenn das Establishment dies alles nicht zur Kenntnis nimmt, dann verbreiten sich diese Ideen ganz allgemein in der Bevölkerung – so wie sonst auch. Ideen bleiben nicht in ordentliche Kästen eingeschlossen. Sie verbreiten sich, springen über Mauern, übertragen sich von einem Kopf zum anderen, und manchmal weiß man nicht wie. Wir alle sind Geschöpfe der Wissenschaft. Man muß sich einmal vorstellen, daß der witzige Film Zurück in die Zukunft (durch einen Zeitsprung bewerkstelligt) einem Publikum von normalen Kindern im Jahr 1910 gezeigt würde. Verwirrung. Verblüffung. Doch das Kinderpublikum (und ein paar Erwachsene), die mit diesem Film spielend fertigwerden, haben kaum einmal eine halbe Stunde naturwissenschaftlichen Unterricht gehabt.

Man stelle sich einen Science-Fiction-Roman vor, 1850 geschrieben, der 150 Jahre später spielt

Bei den alljährlichen Liebesgrüßen zum Valentinstag liest man in den Anzeigen: „Komm und flieg Überschall mit mir!“, „Du kannst dich an meine Terminals anschließen, wann immer du Lust hast!“ Eine Mutter, die mit einer Sozialarbeiterin spricht: „Das müssen die Gene seines Vaters sein, in meiner Familie machen wir so was nicht.“ Ein Taxifahrer auf dem Lande beschwert sich über die Schaulustigen, die er den ganzen Sommer herumfahren mußte, um die Kornkreise zu bestaunen. (Gehört zu der Reaktion auf die Kornkreise vielleicht, daß sie mit verschütteten Assoziationen an Hexenringe verbunden sind?) „Bekloppt“, sagt der Taxifahrer, „wenn die Außerirdischen wissen, wie man Kornkreise macht, dann müssen sie doch die Technologie haben, um ein Faxgerät zu benutzen und uns zu sagen, was sie wollen.“

Ein Faxgerät? Reine Science-fiction. Man stelle sich einen Science-fiction-Roman vor, der 1850 geschrieben wurde und 150 Jahre später spielt. Geschrieben von der unverheirateten Schwester eines progressiven Verlegers, der ihr geraten hatte, unter einem Männernamen zu schreiben.

„Muriel wurde von dem sanften Summen ihrer Weckmaschine geweckt, die gleichzeitig ihren Frühstückstee aufbrühte. Sie brauchte nur einen Augenblick, um ihren Porridge in einem Herd zu kochen, der Hitze wie gebündeltes Sonnenlicht einsetzt. Sie hatte einen Termin bei ihrer Ärztin, einer hochqualifizierten Fachkraft.“

Der Bruder bezweifelte das: Eine Ärztin? – Aber lassen wir es durchgehen. „Sie nahm eine dampfgetriebene Reisemaschine – eine Weiterentwicklung von Kutscher und Wagen, aber der Schmutz und die Quälerei des Reisens mit Pferdeantrieb waren schon lange vergessen. Im Krankenhaus sah sie ihre eigene Gebärmutter auf einem Schirm, der eine Fortentwicklung des Lichtbildes war.“

Der Bruder sagte: Du mußt daran denken, nicht zu phantasievoll zu sein. Du solltest beispielsweise nicht schreiben, daß wir eine Expedition auf den Mond schicken. Bei so etwas verlieren die Leser einfach das Interesse. „Die Ärztin sagte ihr, sie sei in der Lage, Kinder zu bekommen. Muriel hatte unter der Kategorie ,Alleinstehende Frau' einen Antrag gestellt.“ Der Bruder: Du gehst zu weit. „Dann ging Muriel, nur von einer Freundin begleitet, zum Mittagessen in ein Restaurant.“ Vom Bruder gestrichen. „Dort waren alle Gerichte vorgekocht und wurden nach der Bestellung des Gastes im Handumdrehen erhitzt. Danach ging Muriel zu einem Gebäude, das auf Kommunikation spezialisiert war, und schickte ihrer Mutter, die mit einer Gruppe von Geographinnen den Ganges erforschte, eine Nachricht, welche sie zeitgleich durch ein Hohlkabel erhielt.“

Der Bruder: Na ja, schließlich ist es ein Werk der Phantasie.) „Während sie auf Antwort wartete, sah sie die Nachrichten der Woche auf der Glasfront einer Maschine, die Sofortseher hieß. Die Hauptnachricht drehte sich um das Tauchen in einer Maschine in der Tiefsee. Die Antwort ihrer Mutter, ein Faksimile dessen, was diese hastig in einem unhygienischen Dorf am Flußufer geschrieben hatte, lautete: ,Eine aus unserem Team ist krank. Unsere Sofortdiagnose-Ausrüstung bestätigt, daß ihr Blut und Urin Choleraerreger aufweisen. Reserviere ein Bett im Krankenhaus für Reisende, ich fliege morgen mit ihr nach Hause.' Muriel ging zum Sofortsprecher (eine Weiterentwicklung des Sprachrohrs) und sprach mit dem Krankenhaus. Sie verbrachte den Nachmittag mit der Lektüre eines Romans (Praxis) von einer berühmten Schriftstellerin namens Fay Weldon (der Name war ihr gerade eingefallen!). Ihre Ärztin hatte ihr das Buch wegen seiner nützlichen und genauen Informationen über das Funktionieren der Gebärmutter empfohlen.“

Der Bruder sagte: Mach daraus lieber eine Informationsbroschüre mit einfachem Umschlag, geschrieben von einem bekannten Londoner Arzt.) „Vor dem Abendessen erledigte sie die wöchentliche Wäsche mit der Maschine, und weil alle Materialien schnelltrocknend waren, befanden sich die Kleidungsstücke nach dem Essen schon wieder im Schrank. Sie nahm ein Bad in einem künstlich hergestellten Wasserteich mit Wellen und Strömungen: Die Ärztin hatte gesagt, Eintauchen in Wasser könne gut für ihre Empfängnisfähigkeit sein. Bevor sie, allein in ihrem Apartment im Wohnblock für alleinstehende Frauen [zensiert] in einem Raum schlafen ging, der durch Wandplatten, die Hitze ausstrahlten, angenehm erwärmt war, sah sie kurz zu den Sternen hinauf und fragte sich, welcher der Menschheit Freundschafts- und Liebesgrüße geschickt hatte. Denn die Antennen der Empfangsmaschine auf dem Dach des Kensington Palace hatten aufgezeichnet: Bereitet einen Landeplatz vor, wir kommen bald mit einer Flugmaschine. Sie lag lange wach und hörte vorher aufgezeichnete Musik, die man mit einem Fingerdruck an- und abstellen konnte, und auch Stimmen, die aus fernen Ländern durch den Äther übertragen wurden. Sie schlief ein, während sie sich fragte, welcher der Männer, die sie kannte, ihrem Kind ein gutes, starkes Erbgut geben könnte.“

An dieser Stelle machte sich der Bruder nicht mehr die Mühe, seinen konservativen Stift anzusetzen: Er wußte, daß weder er noch sonst jemand einen Roman drucken oder veröffentlichen konnte, der, wie er fürchtete, die ersten Zeichen von Geistesverwirrung zeigte.

Doris Lessing

wurde 1919 geboren. Bekannt wurde die britische Schriftstellerin bei uns durch ihr Goldenes Notizbuch

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