WISSEN UND WISSENSCHAFT
: Technik: mehr als ein Werkzeug

Wer einen elektrischen Mixer anknipst, bedient sich nicht nur eines Werkzeugs. Denn zwischen Rührlöffel und Mixer liegt der Umbau einer ganzen Gesellschaft. Das angebliche „Werkzeug“ hat seine Benutzer verändert: Es kann nicht mehr weggelegt werden. Doch jenseits der Technokultur werden wieder Horizonte klug ausgewählter Lebensstile sichtbar. Ein Lob der Langsamkeit  ■ VON WOLFGANG SACHS

Wenn es je einen einzigen Glaubenssatz gab, der in den letzten Jahrzehnten auf dem Globus den Norden mit dem Süden und den Westen mit dem Osten vereinte, dann war es wohl der: Mehr Technologie ist allemal besser als weniger Technologie. John F.Kennedy bot 1961, als er den Kongress aufforderte, die „Allianz für den Fortschritt“ zu finanzieren, ein Beispiel für jene Glaubenshaltung, die etwa heute, dreißig Jahre später, mit Blick auf den Osten weiterhin unverrückt vorgetragen wird: „Überall in Lateinamerika kämpfen Millionen Menschen darum, sich aus den Fesseln von Armut, Hunger und Ignoranz zu befreien. Im Norden [...] können sie den Überfluß sehen, welchen die moderne Wissenschaft hervorbringen kann. Sie wissen, daß die Werkzeuge des Fortschritts in ihrer Reichweite sind.“ Ob Stahlwerk oder Staudamm, Computer oder Cortison, es sind die „Werkzeuge des Fortschritts“, welche als Unterpfand für eine gelingende Zukunft galten.

Diese Hoffnung wirkt heute reichlich treuherzig. Denn wer auf die tiefen kulturellen Schleifspuren zurückblickt, welche die technologische Entwicklung in allen Gesellschaften zurückgelassen hat, sieht sich zu einer Schlußfolgerung gezwungen: Moderne Technologien besitzen keineswegs die Unschuld von Werkzeugen. Ja, es ist eine Selbsttäuschung, solche Technologien mit einem Hammer zu vergleichen, den man je nach Gutdünken aufheben oder liegenlassen kann, um sich seiner nur zu bedienen, wenn man erhöhte Schlagkraft benötigt. Ein Werkzeug ist schließlich ein Mittel, das bei Bedarf abrufbar ist, doch ansonsten den Benützer unberührt läßt. Wird moderne Technik als ein Werkzeug gesehen, dann scheint sie für jedes kulturelle Projekt einsetzbar zu sein.

Werbegraphiker lieben es ganz besonders, moderne Technologien als die triumphalen Erben primitiver Techniken darzustellen. Da wird die Buschtrommel als Vorläufer interkontinentaler Computerpost präsentiert, die Suche nach Heilpflanzen mit der Synthese von Antibiotika verglichen oder das Schlagen von Feuer aus Steinen als noch unterentwickelte Form der Atomspaltung entdeckt. Kaum eine Fiktion hat mehr dazu beigetragen, die wahre Natur der technischen Zivilisation zu verhüllen, als jene, in moderner Technologie ein bloßes, wenn auch besonders fortgeschrittenes Hilfsmittel zu sehen.

Betrachten wir zum Beispiel einen elektrischen Mixer. Surrend und nur leicht vibrierend macht er in Null Komma nichts Saft aus festen Früchten. Ein wunderbares Werkzeug! So scheint es. Doch ein Blick auf Strippe und Steckdose macht klar, daß es sich beim Mixer eher um die Außenstelle eines gesellschafts-, ja weltweiten Systems handelt: Der Strom kommt über ein Netz von Kabeln und Überlandleitungen, die von Kraftwerken gespeist werden, welche von Wasserdruck, Pipelines oder Tankerladungen abhängen, die ihrerseits Staudämme, Bohrinseln oder Fördertürme voraussetzen. Die gesamte Kette garantiert eine ausreichende und prompte Belieferung nur dann, wenn an allen ihren Abschnitten Heerscharen von Ingenieuren, Planern und Finanzleuten bereitstehen, die wiederum auf Verwaltungen, Universitäten, ja ganze Industrien (und manchmal auch das Militär) zurückgreifen können. Der elektrische Mixer, ebenso wie ein Auto, eine Tablette oder ein Fernseher, ist voll auf die Existenz weitläufiger und miteinander verkoppelter Organisations- und Produktionssysteme angewiesen. Wer einen Schalter anknipst, bedient sich nicht nur eines Werkzeugs, sondern klinkt sich in einen Verbund laufender Systeme ein. Zwischen dem Gebrauch einfacher Techniken und dem Genuß moderner Geräte liegt der Umbau einer ganzen Gesellschaft. Darüber hinaus ist jedes technische Gerät weit mehr als nur ein Mittel, es ist eine kulturelle Potenz. Wer hat nicht schon, hinter dem Steuer eines Wagens, den Thrill der Beschleunigung verspürt? Eine unmerkliche Bewegung des Fußballens genügt, um Kräfte zu entfesseln, die jene des Fahrers um ein Vielfaches übersteigen. Diese Inkongruenz zwischen kleiner Ursache und großer Wirkung, typisch für moderne Technologien, ist der Grund für die aufrauschenden Macht- und Freiheitsgefühle, die den Siegeszug der Technik begleiten. Ob Auto oder Flugzeug, Computer oder Mobilfunk, ihre spezifische Kraft liegt darin, die Begrenzungen, die uns durch den Körper, den Raum, die Zeit und andere Menschen auferlegt sind, ein gutes Stück weit aufzulösen. Weniger Erschöpfung, weniger Entfernung, weniger Dauer und weniger soziale Angewiesenheit, diesem Rhythmus folgt ihre beständige Innovation. Unsere Gefühlswelt schiebt sich hinterher, die Standards der Normalität verändern sich: kein Spaß am Surfen ohne Auto, kein professioneller Glanz ohne Computer, keine stolze Schwangerschaft ohne Fötus auf dem Monitor.

Nicht nur Gefühle werden von den technischen Geräten modelliert, mehr noch, eine andere Realität gewinnt an Wirklichkeit: Es ist wohl kaum übertrieben zu sagen, daß sich mit dem Einzug von Technologie auch die Tiefenstrukturen der Wahrnehmung verändern. Schlagworte mögen genügen: Es drängt sich dem Bewohner der Technosphäre einfach auf, die Natur als mechanisch bewegt, den Raum als geometrisch homogen und die Zeit als linear gerichtet aufzufassen. Die „Werkzeuge“, sie verändern ihre Benutzer, indem sie deren Gefühle und Wahrnehmungen prägen; sie hinterlassen tiefe Abdrücke in Geist und Gemüt. Kurz, es wird schwieriger, sich von den Technologien zu lösen, auf Distanz zu bleiben und sich ihrer ab und an zu bedienen. Wenn aber ein Werkzeug nicht mehr weggelegt werden kann, dann ist es durchaus eine offene Frage, ob es mehr Freiheit gebracht hat.

Gewiß, technische Innovationen werden immer von den Fanfaren der Freiheitsgeschichte begleitet; kein Fortschritt in der Kommunikations-, Medizin- oder Verkehrstechnik, von dem nicht behauptet wird, daß er unsere „Freiheitsgrade“ erhöhe und unsere „Optionen“ erweitere. Das ist unbestreitbar auf den ersten Blick, doch auf den zweiten zeigt sich, daß oft langfristig die Möglichkeiten zurückgehen, ohne die jeweils neuesten Segnungen auszukommen. Was an Wahlfreiheit nach vorne gewonnen wird, wird an Wahlfreiheit nach hinten abgebaut. Das Schicksal der Motorisierung spricht auch hier Bände: Die Autogesellschaft drückt den Bürgern lange Wege und ein verdichtetes Zeittempo auf, und beides zwingt zu einem transportintensiven Lebensstil. Oder: Die Intensivmedizin erzeugt eine Spirale von Überlebenswahrscheinlichkeiten, die es der Person kaum mehr erlaubt, der Gewißheit des Todes ins Auge zu sehen.

Ja, man könnte sagen, es ziehen so etwas wie Umweltkrisen zweiter Ordnung herauf: Mit dem Fortschritt der „Werkzeuge“ verfallen oft jene Verhältnisse und jene Verstehensweisen, mit denen ein gelingendes Leben auch ohne diese „Werkzeuge“ glücken könnte. Ein Don Quichotte, wer zu Fuß geht oder gar auf die Stunde seines Todes warten will. Wir benutzen Technologie nicht, sondern wir leben sie. Wer schwimmen in einem See von Technik – und bekanntlich ist der Fisch der letzte, der weiß, daß er im Wasser schwimmt. Der Spruch „Es kommt nur darauf an, wie die Technik verwendet wird“ geht an diesem Sachverhalt vorbei. Verwenden heißt immer verstricken, solange jedenfalls, wie Technik als Kulturmacht unangefochten bleibt.

Daher ist die tiefere Frage, die sich langsam auf die Tagesordnung der Risikogesellschaft schiebt, nicht so sehr, welche Art der Technik zu wählen sei, sondern wie lange die Technokultur ihr Monopol behält. Nicht wie Technik zu verwenden sei, lautet die Frage, sondern wie sie eingeklammert werden könnte. Schließlich ist es wahrscheinlich, daß die Menschen mit ihren vagabundierenden Wünschen und Hoffnungen auf die Dauer wieder andere Vorlieben entdecken. Wie auch eine friedliche Koexistenz mit der Natur letztendlich nur vorstellbar ist, wenn die Freude daran wächst, mit der Schulter zu zucken und auf die eine oder andere Errungenschaft der Technik zu verzichten. Wer die Vorzüge der Langsamkeit zu entdecken beginnt, auf dem Eigenrecht von Pflanzen und Tieren besteht oder die Kunst des Lebens in der klugen Auswahl sucht, für den hat die Säkularisierung der Technokultur schon angefangen. Es treten dann Bilder von Gesundheit, Genuß, Erfolg und gelingendem Leben hervor, die sich von der Schrittmacherrolle der Technik gelöst haben.

Und es wird eine Gesellschaft denkbar, die sich um ihrer inneren Freiheit willen mit einem technischen Apparat mittlerer Leistungskraft und Geschwindigkeiten zufriedengibt. Das Lob der Suboptimalität ist die Voraussetzung für vielfältige Lebensstile jenseits der Technokultur. Vor diesem Hintergrund zeichnet sich interessanterweise ein historisch neues Profil des Verlangens nach Freiheit ab. Könnte Liberalismus nicht heißen, der Freiheit, Technik auch abzuwählen, zur Geltung zu verhelfen? Also auf Lebensumstände zu dringen, welche es zum Beispiel ermöglichen, ohne Auto angenehm zu leben? Jedenfalls würde sich eine Politik, die sich nicht auch solchen Freiheiten verpflichtet fühlt, den Rückweg von der Front oder der Spitze des technischen Fortschritts abschneiden. Generäle und Bergsteiger wissen, wie leichtsinnig das ist.

Wolfgang Sachs ist Kollegiat am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen. Er hat 1990 das Buch „Die Liebe zum Automobil. Ein Rückblick in die Geschichte unserer Wünsche“ veröffentlicht.